Donnerstag, 22. Dezember 2011

OFFENER BRIEF

Nunningen, 21. Dezember 2011

Sehr geehrte Entscheidungsträger in unserem Staatswesen

Aus verschiedenen Quellen habe ich erfahren, dass Asylsuchende an der Empfangsstelle Basel an der Freiburgstrasse 50 weggewiesen wurden und die Nacht im Freien verbringen mussten. Gestern wurde beobachtet, wie eine Familie mit 9 Kindern sich in Campnähe darauf einrichtete, die Nacht draussen zu verbringen. Das kleinste dieser Kinder war etwa 5 Monate alt! Nur dank dem Eingreifen engagierter Bürger wurde das Schlimmste verhindert. Anscheinend fühlt sich niemand sonst für diese Menschen zuständig.

Als Bürger dieses Landes schäme ich mich zutiefst, dass es soweit kommen konnte. Die Zustände an unserer Stadtgrenze kontrastieren aufs Schärfste mit dem Lichterglanz in unserer Innenstadt. Dieser Kontrast wirft ein Licht auf ein ganz anderes Flüchtlingsproblem. Zum Vorschein kommt unsere eigene Flucht in eine Scheinwelt, die sich der real existierenden Welt um uns herum, für deren Glanzlosigkeit wir wesentlich mitverantwortlich sind, verschliesst. Während wir Weihnachtsgeschenken für unsere Kinder nachjagen, leiden unmittelbar neben uns Kinder, die von Geschenken nur träumen können, ohne dass wir das bemerken.

Ich appelliere an Ihren aufgeklärten Widerstandsgeist gegen eine gefühlte Mehrheit, die behauptet, das Boot sei voll, und dabei verkennt, dass wir längst alle in demselben Boot sitzen. Bitte setzen Sie ALLE Hebel in Bewegung, damit bei uns kein Mensch mehr auf der Strasse übernachten muss. Und zwar noch heute!

Mit freundlichen Grüssen

Matthias Bertschinger, 4208 Nunningen

Sonntag, 18. Dezember 2011

Selbstbetrug

Wir sind Leben, das sich selbst erkennt. In diesem Erkennen liegt nicht nur ein Erstaunen, sondern auch ein Erschrecken, das uns Menschen in der Regel heillos überfordert. Wir Menschen neigen deshalb dazu, in selbstbetrügerischer Weise durch Instrumentalisierung unseres Geistes diesen selbst von seinem eigenen Erkennen abzulenken, etwa vermittels sog. Rationalisierungen. Evolutionsbiologische Theorien wie diejenige von Robert Trivers über den Selbstbetrug (ZEIT Nr. 50, S. 41f.), welche diese ontologische Dimension des Erkennens nicht mitberücksichtigen, greifen nicht nur zu kurz, sondern sind – welche Ironie! – selbst Ausdruck eines Selbstbetrugs, nämlich des oben beschriebenen, viel fundamentaleren. In solchen Rationalisierungen drückt sich das Erkennen selbst als Selbstbetrug aus.
Unsere „geistlose“, von Rationalisierungen geprägte Zeit erweist sich bei näherer Betrachtung nicht etwa als Folge der Abwesenheit von Geist, sondern als Folge einer unvermindert intensiven Anwesenheit von Geist in einem anderen, diesen selbst verhüllenden Gewand. Was für eine erstaunliche Blüte hat die Evolution hier getrieben! Gemeint ist aber eben nicht der Geist als bloßes Mittel, dessen sich der Mensch bedient, und als welcher er aus evolutionsbiologischer Sicht erscheint, sondern Geist als aus sich selbst heraus erkennendes Erkennen, der sich umgekehrt des Menschen als Werkzeug bedient – sei es, indem er sich verbirgt, was uns Menschen in der Illusion wiegt, Herr über unser eigenes Handeln zu sein, oder sei es, indem er sich entbirgt, wodurch uns nebst unseren beängstigenden Grenzen auch unsere Freiheit offenbart würde. Ob diese erstaunliche, Blüte der Evolution, die sich in der Regel verbergend entbirgt, uns Menschen auch zum Überleben befähigt?

Zum Fest der Liebe

„Die Zeiten sind besonders strub“. Wer würde dieser Aussage angesichts der gegenwärtigen Krisen nicht zustimmen? Mich erinnert sie an eine andere Aussage, die ich als Gärtner auch jedes Jahr gehört habe: „Die Pflanzen sind dieses Jahr besonders stark gewachsen“.
Nicht alles ist so, wie es erscheint. Von unserer Wahrnehmung hängt ab, wie die Wirklichkeit erscheint, und davon wiederum, wie wir gestaltend auf sie einwirken: „Es ist viel stärker gewachsen, also müssen wir stärker zurückschneiden“. Die von uns veränderte Wirklichkeit bestätigt nun unsere Wahrnehmung: „Dieses Jahr ist alles viel stärker gewachsen, denn sonst hätten wir ja nicht stärker zurückschneiden müssen“. Blicken wir im Folgenden über den Gartenhag.
Nach diesem Muster kann man eine Spirale sich selbst erfüllender Wahrnehmungen erzeugen: Probleme („Wir haben ein Ausländerproblem“) oder deren Erscheinungsweisen („Wir haben eine Finanzmarktkrise“) lassen sich so herbeireden. Damit kann man von eigentlichen „Problemen“ („Wir sind unterwegs ins globale Dorf“) und tieferen Problemursachen („Wir haben eine Systemkrise“) ablenken – genauer: von uns selbst als einem Teil des Problems. Probleme in eine Sphäre des Unerklärlichen oder Schicksalhaften zu rücken („Die Zeiten sind strub“) entbindet uns am wirksamsten davon, uns selbst als Handelnde (oder was als dasselbe erscheint: als Nicht-Handelnde) in diesen Zeiten zu sehen.
Tragen wir etwas Sorge zu unseren Wahrnehmungen, denn sie übertragen sich in die Welt. Aber eben nicht, indem wir versuchen, sie zu lenken. Tragen wir Sorge zu unseren Wahrnehmungen, indem wir uns bemühen, möglichst schonungslos hinzusehen, was ist, und wie es ist. Das Schwierige dabei ist, dass wir so auch die Kontrolle über unsere Empfindungen verlieren, welche unsere Wahrnehmung begleiten und unser Handeln leiten. Weihnachten steht für eine Empfindung, welche sich unserer Kontrolle komplett entzieht. Wir werden von der Liebe ergriffen, herbeilenken lässt sie sich nicht. Der Boden, auf dem sie gedeiht, ist das schonungslose Hinsehen. Vieles hängt davon ab, ob wir lernen, das auszuhalten.
Frohe Weihnachten!

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Konkordanz und kein Diktat

Die Konkordanzdemokratie hat sich bewährt. Das Parlament liess sich nicht durch ungerechtfertigte Ansprüche einschüchtern, und es hat mit der für unser Land massgebenden Nüchternheit gute Leistungen anerkannt und honoriert, wie sie Eveline Widmer-Schlumpf erbracht hat. Die Bündner Magistratin ist vor vier Jahren von der Bundesversammlung als SVP-Politikerin zur Bundesrätin gewählt worden. Ihr Parteiausschluss war ein Akt unhelvetischer Arroganz. Seitdem sieht sich die SVP im Bundesrat untervertreten und setzt diese behauptete Verletzung der Zauberformel mit einer Verletzung der Konkordanz gleich. Doch in der Zauberformel findet Konkordanz nur ihren Niederschlag. Ohne den Willen zur Zusammenarbeit ergibt die Zauberformel keinen Sinn. Unsere Konkordanz wird nicht durch das Zurückweisen ungerechtfertigter Ansprüche infrage gestellt, sondern im Gegenteil durch die diktatorische Weise, wie die SVP ihre Ansprüche stellt und was darin zum Ausdruck kommt: Mangelnder Wille zur Zusammenarbeit - das Gegenteil von Konkordanz. Mit der Wiederwahl der Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf beweist die Bundesversammlung, dass sie verstanden hat, was Konkordanz ist. Wir wünschen allen Landesmüttern und –vätern ein segenreiches Wirken für das ganze Land.

Förderkreis des Club Helvétique


La democrazia di concordanza ha dimostrato il suo valore. Il Parlamento non si è lasciato intimidire da pretese ingiustificate, ed ha riconosciuto e premiato Eveline Widmer-Schlumpf per i buoni servizi dati al nostro paese.

Quattro anni fa, la magistrata grigionese è stata eletta consigliera federale dall'Assemblea federale come rappresentante dell'UDC. La sua espulsione dal partito è stato un atto di arroganza contrario alla tradizione elvetica. Da allora, l'UDC è sotto-rappresentata nel Consiglio Federale, ma la presunta violazione della formula magica è paragonabile a una violazione della concordanza. La formula magica, infatti, riflette soltanto la concordanza. Senza la volontà di collaborare, la formula magica non ha senso. La nostra concordanza non è il rifiuto di discutere di pretese ingiustificate, ma piuttosto il rifiuto del modo dittatoriale con cui l'UDC esprime le sue esigenze: la mancanza della volontà di collaborare è l'opposto della concordanza. Con l'elezione della consigliera federale Eveline Widmer-Schlumpf, l'Assemblea federale ha dimostrato di aver capito ciò che è la concordanza.

Auguriamo a tutte le madri e i padri della nazione, un lavoro benefico per tutto il paese.

Il Comitato di sostegno al Club Helvétique


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La démocratie basée sur la concordance a démontré toute sa valeur. Le Parlement ne s'est pas laissé intimider par des prétentions injustifiées et a reconnu et récompensé Éveline Widmer-Schlumpf pour les bons services qu'elle a rendu à notre pays.

Il y a quatre ans, la magistrate des Grisons a été élue conseillère fédérale par l'Assemblée fédérale comme représentante de l'UDC. Son expulsion du parti a constitué un acte arrogant contraire à la tradition helvétique. Depuis lors, l'UDC est sous-représentée au Conseil Fédéral, mais la violation supposée de la formule magique est comparable à une violation de la concordance. La formule magique en effet, reflète simplement la concordance. Sans la volonté de collaborer, la formula magique n'a pas de sens. Notre concordance n'est pas le refus de discuter des prétentions injustifiées, mais plutôt le refus de la façon dictatoriale avec laquelle l'UDC exprime ses exigences: l'absence de la volonté de collaborer est à l'opposée de la concordance. Avec l'élection de la conseillère fédérale Éveline Widmer-Schlumpf, l'Assemblée fédérale a montré avoir compris ce qu'est la concordance.

Nous souhaitons à toutes les mères et à tous les pères de la nation un travail bénéfique pour tout le pays.

Le Comité de soutien au Club Helvétique

Sonntag, 4. Dezember 2011

Die FDP, die Liberalen und Wir

(Publiziert auf der Online-Plattform "Infosperber", 7. Dezember 2011, gekürzte Fassungen in der Basellandschaftlichen Zeitung vom 10. Dezember 2011 und weiteren Printmedien)

Die Erbschaftssteuer ist eine liberale Steuer. Sie müsste also ganz im Sinne der FDP sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. Was macht eigentlich Solidarität auch für uns „Schwache“ so schwierig?

Christliche und linke Parteien verlangen mit einer Volksinitiative die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer. Erwartet werden Einnahmen von 3 Milliarden Franken. 2 Milliarden Franken sollen in die AHV fliessen, eine Milliarde an die Kantone. Die kantonalen Erbschafts- und Schenkungssteuern (insgesamt ca. 800 Millionen Franken) würden im Gegenzug wegfallen.

Die Erbschaftssteuer ist nicht nur ein christliches und linkes, sondern auch ein urliberales Anliegen. Sie müsste also ganz im Sinne der FDP sein. Denn mit der Erbschaftssteuer wird nicht Leistung besteuert, sondern pures Glück. Geburtsprivilegien wurden mit der Französischen Revolution abgeschafft. Der Liberalismus sieht alle Menschen als von Geburt an gleich und frei. Die Vererbung von Grossvermögen unterläuft dieses Prinzip, denn mit ihnen wird auch Macht weitervererbt und angereichert. Von den 300 reichsten Schweizern ist die Hälfte durch Erbschaften reich geworden. Mittlerweile besitzen 3 Prozent der privaten Steuerpflichtigen gleich viel wie die restlichen 97 Prozent. Es droht eine Refeudalisierung der Schweiz, ein Rückfall ins vor-vorletzte Jahrhundert.

Unter einer Konzentration von Reichtum leidet nicht nur die Chancengleichheit und die Demokratie, sondern auch unsere Leistungsgesellschaft. Studien zeigen, dass sich Länder mit hoher Ungleichheit schlechter entwickeln als Länder mit weniger Ungleichheit. Noch weniger Gleichheit als in der Schweiz gibt es nur noch in Singapur und Namibia. Singapur ist wie die Schweiz eine Oase für Steuerfluchtgelder, und der Druck auf solche Steueroasen wächst – und zwar zu recht. Haben wir eigentlich noch die richtige Geschäftsstrategie?

Das Mantra der Geldaristokraten und ihrer neoliberalen Günstlinge lautet, Freiheit werde immer nur vom Staat bedroht. Davon, dass auch private Macht die Freiheit bedroht, und dass der Staat die Freiheit von uns weniger Mächtigen überhaupt erst ermöglicht, ist nie die Rede. Der Staat soll nicht neue Steuern erheben, sondern noch mehr sparen, heisst es. Gespart werden soll bei der „aufgeblähten Sozialindustrie“, den „Scheininvaliden“, beim „aus den Fugen geratenen Erziehungswesen“ und bei den „Scheinasylanten“ sowieso. Dass dort auch Missstände herrschen können, sei nicht in Abrede gestellt. Auffällig aber ist, dass Sparübungen so oft auf Kosten der Armen, der Kranken, der Kinder oder der Flüchtlinge gehen sollen, also bei den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft ansetzen.

Offensichtlich genügen einfachste sprachliche Manöver, um unser Gewissen zu beruhigen, wenn es einmal mehr die Schwächeren treffen soll. Wir machen nämlich gerne mit, denn es befreit nicht nur die Mächtigen von uns Schwachen, sondern auch und gerade uns selbst, wenn wir gegen noch Schwächere losgelassen werden. Wovon?

Darüber wird viel, aber oft zu wenig radikal nachgedacht. Eine in der Denktradition Heideggers liegende Herangehensweise könnte weiterhelfen. Gegen Schwache kann man erst vorgehen, wenn man sie verachtet. Man muss zuerst lernen, in ihnen (wenn auch nicht ebenbürtige, so doch) egoistische Konkurrenten zu sehen. Als Faule, Kriminelle oder Profiteure erscheinen Schwache als solche, die sich schon selbst zu helfen wissen. Weil Schwache so zugleich als Starke erscheinen, bedürfen sie nicht unseres Mitgefühls, welches Schwache in unseren Augen nicht nur aufrichtet, sondern uns im selben Zuge – und hier liegt der Hund wohl begraben – immer auch unser eigenes, existentielles Schwach-Sein offenbart.

Denn erst mitfühlend erkennen wir, was wir normalerweise gar nicht wahrnehmen und wahrnehmen wollen: Dass und inwieweit unserem Handeln das stetige Bemühen zugrunde liegt, grösser und stärker zu erscheinen, als wir sind. Mitfühlend kann man die hoffnungslose Vergeblichkeit, die fatalen Folgen für andere und uns selbst, die enorme, Wirklichkeit erzeugende Tragweite und die tiefe seelische Ursache dieses Bemühens nicht mehr verdrängen, da im Mitfühlen oder Mitleiden gerade das Gegenteil, nämlich ein Zulassen von Bewusstsein zum Ausdruck kommt. Erst mit diesem Zulassen von Bewusstsein erkennen wir Menschen als wesentlich Gleiche und Freie. Wir erkennen, dass Menschen am je eigenen Dasein auf eine wesentlich gleiche Weise leiden, gleich ins je eigene Leben freigesetzt wurden und dem je eigenen, unentrinnbaren Schicksal gleich ausgeliefert sind. Wir erkennen uns in einem existentiellen Sinne als Verlierer.

Um uns selbst nicht als Verlierer sehen zu müssen, machen wir andere zu Verlierern. Das wirkt befreiend, aber genau dadurch werden wir nicht nur unfrei, sondern letztlich auch beziehungsunfähig. Mächtige machen sich nur unsere eigene Bereitschaft zur Selbstüberhöhung zunutze, welche sich aus dem Zusammenspiel von Bewusstsein, halbbewusster Selbsttäuschung darüber, was wir eigentlich ohne weiteres erkennen, und instinktiver Gefahrenabwehr ergibt. Indem sie Feindbilder liefern oder Menschen in bereits vorhandenen Vorurteilen bestärken, sorgen Mächtige dafür, dass wir Schwächeren uns gegenseitig gering achten und dadurch selbst in Schach halten.

Wir müssen endlich lernen, solche Selbsttäuschungsmanöver zu durchschauen – auch im Interesse der Reichen. Denn das Schicksal des Planeten ist auch das Schicksal ihrer Kinder. Umlernen beginnt in der Schule. Die Schule muss unsere Kinder zu einem bewussten Umgang mit dem Leben befähigen, nicht zu einem blinden Konkurrenzkampf. Wahrzunehmen, wo Menschen verführt werden, und weshalb sich Menschen so leicht verführen lassen, will gelernt sein. Der Allgemeinbildung, der Staatsbürgerkunde, der Medienkompetenz, dem Fach „Religionen und Kulturen“ und überhaupt den als „nicht nützlich“ belächelten geisteswissenschaftlichen Fächern muss eine viel grössere Bedeutung zukommen. Der Philosoph Martin Heidegger sagte einmal, „Wissenschaft denkt nicht“. Er meinte damit, dass uns der naturwissenschaftlich-technische Ansatz bei den wirklich entscheidenden Fragen nicht weiterhilft.

Umlernen müssen wir aber auch im Alltag. Die Frage, wohin eine wachsende Entsolidarisierung führen kann, betrifft uns alle. Verteilfragen müssen deshalb endlich wieder gestellt werden dürfen, ohne reflexartig als Neider hingestellt zu werden. Sie lassen sich aufgrund der wachsenden Rohstoffknappheit ohnehin nicht ewig hinausschieben. Mit der Schuldenwirtschaft geschieht aber genau das: Wir verschieben unangenehme Verteilfragen auf die nächsten Generationen.

Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen, heisst es in der Präambel unserer Bundesverfassung, einem Gesellschaftsvertrag, den wir mutigen Liberalen des 19. Jahrhunderts zu verdanken haben. Er ist nur so viel wert, wie wir ihn auch leben. Der FDP fehlen heute die mutigen Liberalen. Dadurch, dass sie den Geist der Aufklärung nicht mehr atmen, sondern Menschen in ihren Vorurteilen bestärken, machen sich Freisinnige selbst überflüssig.

Offenbar geht es den heutigen, real existierenden Liberalen, nur noch darum, Menschen klein und abhängig zu halten. Unsere Angst vor dem Arbeitsplatzverlust kommt ihnen dabei wie gewohnt gelegen: „Mit der Erbschaftssteuer wollen die Linken Ihr Portemonnaie plündern und zerstören dabei Unternehmen und Arbeitsplätze“, heisst es in ihrem Parteiblatt. Mit solchen und ähnlich hohlen Phrasen können sie aber gegen eine weitaus „bessere“ Konkurrenz im rechten Lager nicht punkten.

Frage zum Schluss und am Rande: Entspricht „Ihr“ Portemonnaie schon den Vorstellungen „Ihrer“ FDP? Dann herzlichen Glückwunsch und willkommen im Club! Für uns Nicht-Mehrfach-Millionäre stellt sich hingegen die Frage: Wessen Interessen vertritt diese Partei eigentlich noch? Denn Erbschaften unter zwei Millionen Franken sollen ja steuerfrei bleiben.

Matthias Bertschinger, Jurist, Gemeinderat (Grüne) in Nunningen/SO.

Dienstag, 1. November 2011

NZZ-Leserbrief vom 1.11.11

Mit Blick auf das schlechte Abschneiden der SVP glaubt René Zeller, Geld spiele in der Politik wohl doch nicht eine so grosse Rolle, wie oft behauptet wird (NZZ 27.10.11). Das schlechte Abschneiden der SVP zeigt indes nur, dass man auch mit enormen Geldmitteln den Schaden nicht mehr beheben kann, den man mit einer Propaganda anrichtet, deren Stil, Ton und Penetranz eine breite Mehrheit mittlerweile nur noch anwidert. Dass man Geld auch zum Fenster hinauswerfen kann, ist noch lange kein Argument gegen mehr Transparenz in der Politik.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Leserbrief an die Sonntagszeitung vom 23. Oktober 2011

Döbeli alias Dobelli zitiert einen komplizierten Satz von Habermas, den er nicht versteht. Nun schliesst er von seinem Unverständnis auf dasjenige von Habermas: Wer so komplizierte Sachen schreibt, habe selber ein Durcheinander im Kopf.
Das hören wir gerne: Was über unser augenblickliches Fassungsvermögen geht, ist bloss elitäres Geschwätz, hinter welchem sich Machtansprüche verbergen.
Wir fühlen uns bestätigt und fassen neuen "Mut" zur eigenen "Meinung". Tatsächlich ermutigt uns Dobelli mit seinem Kurzschluss nur, nicht weiter zu denken. Rechtspopulismus funktioniert, weil es so wohltuend ist, in seinem Selbstverständnis und in seinen Vorurteilen bestätigt zu werden. Demokratie hingegen bedeutet Absage an solche Seelenmassage. Ob die Zahl derer, die das begreifen, wächst, wird der heutige Wahlsonntag zeigen.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Leserbrief zu Tettamantis Erwiderung auf Cottier (in der NZZ vom 11. Oktober 2011), NZZ vom 15./16. Oktober 2011

Die Frage, ob die EU eine Fehlkonstruktion ist oder nicht, ist falsch gestellt. Die EU ist massgeblich, was wir aus ihr machen werden, sie ist ein Anfang. Selbst wenn die Auswirkungen der EU-Politik im Moment da und dort schlechter sein mögen als die Summe der nationalen Politiken es wären, wäre ein Fortschreiben der nationalen Politiken auf lange Sicht schlechter als gewisse schlechte Auswirkungen der EU-Politik im Moment.
Vielleicht hilft ein Vergleich: Kein Armeegegner käme auf die Idee, die Abschaffung der Schweiz zu fordern, weil sich die einzelnen Kantone keine Luftwaffe leisten könnten!
Man muss die EU von innen her demokratisieren, und da tut sich auch was. Das geht nicht von heute auf morgen. Denn was wäre die Alternative zu mehr Zusammenarbeit? Im Atomzeitalter jenseits des Gleichgewichts des Schreckens darf man die Zügel nicht mehr lockerlassen. Da müssen alle Erdenbürger am selben Strick ziehen, und die EU ist da auch "nur" ein Ausdruck dieses Willens zu mehr Zusammenarbeit - ein Anfang und ein Anfangen. Es stünde uns Schweizern gut an, mit anzupacken.

Montag, 26. September 2011

Wählen Sie Demokraten, aber nicht nur erklärte!

Wochenblatt für das Schwarzbubenland und das Laufental, 29. September 2011; Basellandschaftliche Zeitung vom 8. Oktober 2011, sowie in weiteren Printmedien in gekürzter Form

Bei aller Liebe zur Schweiz – es wird unsere Zukunft erträglicher machen, wenn wir Parlamentarier und Parlamentarierinnen wählen, die mit Argumenten überzeugen, und nicht solche, die mit patriotischen Floskeln um sich werfen. Vorsicht ist namentlich bei denjenigen Patrioten geboten, welche an Freiheits- und Grundrechten rütteln, aber sich selbst noch als Musterdemokraten bezeichnen.

Demokratie dient der Freiheit
Demokratie wurde „erfunden“, weil diese Staatsform der Freiheit am besten dient, und nicht, weil der Erfinder meinte, das Volk habe immer recht. Demokratie funktioniert nur, wenn möglichst viele darüber nachdenken, wie man der Freiheit am besten dient. Und das Nachdenken ist nun einmal Sache des Kopfs, nicht des Bauchs. Das Vertrauen auf den Bauch öffnet der Manipulation Tür und Tor, und wo man aufhört nachzudenken, verflüchtigt sich auch die Demokratie.
Mehrheitsentscheide dürfen Freiheit nur einschränken, wo Zwang – also Einschränkung von Freiheit –, der Freiheit selbst dient. Ein demokratischer Entscheid zum Atomausstieg trägt beispielsweise der Freiheit zukünftiger Generationen auf Lebensentfaltung Rechnung, schränkt also nicht einfach nur die Wirtschaftsfreiheit der AXPO ein.

Undemokratische Mehrheitsentscheide
Wo Mehrheitsentscheide sich gegen fundamentale Freiheitsrechte, Menschenrechte oder den Minderheitenschutz richten, sind selbst Mehrheitsentscheide undemokratisch, weil sie die Grundlagen der Demokratie zerstören: Eine Mehrheit ist zwar immer „frei“, Freiheitsrechte von Minderheiten zu verletzen oder die Demokratie gleich ganz abzuschaffen. Nur handelt die Mehrheit dann nicht mehr demokratisch – Mehrheitsentscheid hin oder her.
Wir alle gehören irgendwelchen Minderheiten an, und die Schweiz ist der bunte Fleckenteppich aller ihrer Minderheiten zusammen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Allen Minderheiten gemeinsam ist im demokratischen Staatswesen der Wille zum Zusammenhalt auf der Grundlage gegenseitigen Respekts. Respekt ist Achtung der Freiheit meines Gegenübers. Wie weit diese Achtung mindestens gehen muss, damit sie nicht zur Verachtung wird, ist ausformuliert im Grundrechtskatalog jeder freiheitlichen Staatsverfassung. Respekt ist auch und gerade gegenüber solchen Gesellschaftsmitgliedern erforderlich, die vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen sind. Angesprochen ist hier unser Umgang mit den Ausländern. Die Achtung ihrer Freiheit ist umso wichtiger, als wir von ihnen Zusammenhalt einfordern, obwohl wir selbst ihnen eine wichtige Freiheit vorenthalten – nämlich die politische. Integration fordern, aber gleichzeitig gegen Ausländer hetzen, ist nicht nur scheinheilig, sondern auch grotesk.

Kultur des Nachdenkens
Demokratie ist nicht Selbstzweck, sondern dient der optimalen Zukunftsgestaltung. Sie ist ein stetiges Bemühen um ein Höchstmass an Freiheit für alle Menschen – auch um Freiheit künftiger Generationen. Dieses Bemühen kennt letztlich auch keine nationalen Grenzen. Charakteristisch für eine gut funktionierende Demokratie ist nicht der Mehrheitsentscheid, sondern eine Kultur des Nachdenkens und Argumentierens. Einer solchen Kultur des Nachdenkens ist jede Form von Politmarketing schon im Ansatz suspekt.

Wahlempfehlung
Angesichts des Gesagten ist es nur folgerichtig, wenn ich hier keine konkrete Wahlempfehlung abgebe, sondern Sie dazu auffordere, selbst genau hinzusehen und diejenigen Kandidaten und Kandidatinnen zu wählen, die mit ihren Argumenten überzeugen, und nicht diejenigen, die nur freundlich lächeln oder sich als mustergültige Patrioten aufblasen. Möglicherweise überzeugen Sie ja bei genauerem Hinsehen auch die Argumente von Mitgliedern solcher Parteien, denen regelmässig „Zwangsregelungswut“ unterstellt, also Freiheitsliebe abgesprochen wird. Oder ist, wer mit millionenschweren Kampagnen auf unser Bauchgefühl abzielt, wirklich der Freiheit verpflichtet? Sehen Sie genau hin, und wählen Sie selbst. Aber wählen Sie! Denn stellen Sie sich vor, es wäre Demokratie, und keiner geht hin. So kann man Demokratie nämlich auch abschaffen.

Donnerstag, 15. September 2011

Mit Phantasie gegen Hetzplakate

infosperber, 15. September 2011

Ein Lehrer und ein Politiker haben SVP-Plakate weiss übermalt, um gegen die Menschenverachtung zu protestieren. Ist das legitim?
Menschenrechtsaktivisten machen sich zunehmend an «Masseneinwanderung stoppen»-Plakaten zu schaffen. In der Regel wird der Schriftzug verändert: Aus «Masseneinwanderung stoppen» wird «Wandern ist schön» oder «MassenVERBLÖDUNG stoppen». Kleber mit dem Aufdruck «verblödung» kann man auf www.halts-maul.ch bestellen.

Nachteil: Auch nach der Veränderung des Schriftzuges sind SVP-Plakate als solche erkennbar. Dadurch transportieren sie ihre Botschaft weiterhin.

In Schaffhausen haben der Grossstadtrat Andi Kunz und der Lehrer Christoph Schmutz deshalb eine ganz andere Strategie gewählt: Sie haben diese Hetzplakate einfach weiss übermalt. Die Aktion fand am helllichten Tag statt und stiess auf grosses Echo.

Doch solche Aktionen sind rechtswidrig. Die SVP rügt die Verletzung ihres Eigentums und der Meinungsfreiheit. Fehlt es den mit Pinsel und Kleber bewaffneten Aktivisten also an Respekt gegenüber unserem Rechtsstaat und der Demokratie?

Hetze ist nicht Meinung
Die Aktivisten ihrerseits werfen der SVP vor, die Menschenwürde zu verletzen. Hetze habe soviel mit Meinung zu tun wie Schimpfen mit Nachdenken. Meinungen sind Äusserungen im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung. Die Bereitschaft zur geistigen Auseinandersetzung fehle aber gerade, wo gehetzt wird. Meinungsfreiheit dürfe man deshalb nicht als Grund vorschieben, um zu hetzen.

Ausserdem machen Menschenrechtsaktivisten auf eine Verletzung der politischen Rechte aufmerksam. In einer Demokratie sollen alle Menschen und Parteien einen gleichberechtigten Zugang zum politischen Willensbildungsprozess haben. Gleich ist dieser Zugang aber dort nicht mehr, wo ein enormes Ungleichgewicht der Mittel dazu führt, dass sich eine Partei über Gebühr Gehör verschaffen kann. Die SVP verfügt für ihre Plakatkampagnen über Millionen, während andere Politakteure quasi auf dem Trockenen sitzen.

Sowohl Hetzkampagnen wie auch die ungleiche Verteilung der Mittel in der Politik gefährden den Rechtsstaat und die Demokratie.

Noch gefährlicher für den Rechtsstaat wäre hingegen, wenn jeder das Recht in die eigene Hand nimmt. Denn der Staat bezweckt ja gerade, dass sich niemand gegen behauptete Rechtsverletzungen eigenmächtig wehrt. Das Gewaltmonopol beansprucht der Rechtsstaat für sich. Im Gegenzug stellt er Rechtsmittel zur Verfügung, mit welchen man sich gegen die Verletzung von Rechtsgütern wehren kann.

Kaum Rechtsmittel gegen Hetze
Doch es gibt kein Rechtsmittel, um sich gegen die extrem ungerechte Verteilung der Mittel in der Politik zu wehren. Denn die Schweiz hat als einzige moderne Demokratie die Parteienfinanzierung gesetzlich nicht regelt. Deshalb sei die Demokratie bei uns in hohem Masse käuflich, meinen längst nicht nur Linke. Regeln zur Finanzierung von Parteien und Abstimmungen sind überfällig.

Auch gegen Hetzkampagnen stehen oft keine Rechtsmittel zur Verfügung. Hetze ist zum Beispiel verboten, wenn sie rassistisch ist, wie etwa die Aussage «Kosovaren sind eine Pest». Doch gegen die Aussage «Kosovare schlitzt Schweizer auf» kann man kaum klagen. Um jegliche Hetze zu verbieten, müsste man zuerst definieren, was Hetze ist. Wie schwierig das ist, verdeutlicht folgende Frage: Ist die Aussage «Fertig mit der Umverteilung nach oben durch Bonzen!» bereits Hetze gegen Reiche? Rechtsmittel können also nicht nur deshalb fehlen, weil der Gesetzgeber untätig bleibt, sondern auch, weil es oft unmöglich ist, eine befriedigende Regel aufzustellen.

Kein Rechtsnotstand
Bloss weil ihnen der Rechtsstaat keine Rechtsmittel in die Hand gibt, können sich Aktivisten nicht auf den sogenannten Rechtsnotstand berufen. Der Rechtsnotstand erlaubt eine eigenmächtige Verteidigung wichtiger Rechtsgüter, wo es der Gesetzgeber versäumt oder nicht schafft, solche Rechtsgüter gegen eine schwerwiegende (drohende) Verletzung zu schützen. Schwerwiegend ist eine Verletzung zum Beispiel dann, wenn eine Diktatur errichtet würde. Stimmungsmache gegen Ausländer hingegen verletzt das Rechtsgut «Menschenwürde» im juristischen Sinne nicht schwerwiegend.

Aufhetzer sollen Widerspruch in Kauf nehmen müssen
Wer die Menschenrechte schützen will, kann sich wie gezeigt nicht allein auf das Recht verlassen. Vielmehr braucht es unsere aktive Mithilfe – etwa durch phantasievolle Aktionen.

Das ist kein Freipass für illegale Aktionen, zumal auch legale Mittel zur Verfügung stehen. Weil aber Hetzplakate die Menschenverachtung ausdrücken, gegen welche sich Aktivisten wehren, kann es dennoch als legitim erscheinen, auch gegen solche Plakate selbst vorzugehen.

Jedenfalls sollte der Rechtsstaat bei der Strafverfolgung äusserst sensibel reagieren. Denn wenn er Hetze schon nicht verbieten kann, soll er die Aufhetzer nicht auch noch vor Widerspruch schützen.

Aktivisten können sich genauso auf die Meinungsfreiheit berufen wie ihre Gegner. Die Aktionen müssen jedoch stets verhältnismässig bleiben. Falls die Aktivisten Eigentumsrechte verletzen, muss es glaubhaft sein, dass es ihnen um die Meinungsfreiheit geht und sie diese nicht etwa als Vorwand nehmen für ihre Zerstörungswut.

Humorvoll statt destruktiv vorgehen
Verhältnismässig ist ein Eingriff zum Beispiel wohl dann, wenn Aktivisten humorvoll und nicht destruktiv vorgehen. Wenn Aktivisten Humor, Phantasie und Kreativität an den Tag legen, können sie glaubhaft vermitteln, dass sie sich den Werten von Rechtsstaat und Demokratie verpflichtet fühlen, selbst wenn sie sich über gewisse Normen dieses Rechtsstaates hinwegsetzen. Durch phantasievolle Aktionen können Aktivisten wie Kunz und Schmutz für sich in Anspruch nehmen, einen zivilgesellschaftlichen Protest zum Ausdruck zu bringen, und nicht, einfach nur Chaoten zu sein.

Welche Aktionen klug sind, zeigt sich oft erst später
Kaum nachvollziehbar sind solche Güter-Abwägungen für diejenigen, welche nicht verstehen, wogegen sich Kunz und Schmutz mit ihrer Aktion richten: Eben nicht gegen fremdes Eigentum oder die Meinungsvielfalt. Doch auf genau dieser Interpretationsvariante reitet die SVP herum.

Deshalb kann man sich fragen, ob illegale Plakataktionen auch klug sind. Ob eine Aktion klug ist, bemisst sich am Erfolg, und ob dieser eintritt, hängt nicht nur von den Aktivisten selbst ab. Kunz und Schmutz wenden sich mit ihrer Aktion nicht nur gegen die Menschenverachtung, welche auf Hetzplakaten zum Ausdruck kommt, sondern appellieren auch an uns alle, bedenkliche Entwicklungen nicht länger tatenlos hinzunehmen. Ob sie damit erfolgreich sein werden, hängt von uns allen ab.

Montag, 29. August 2011

Irrtümer loswerden: Mehr fragen.

Ich versuche, die Gedanken schriftlich zu formulieren, welche meinen Voten zum Positionspapier von *** und *** an der letzten Sitzung zugrunde liegen.
Es gälte, die allerärgsten Irrtümer loszuwerden, so ***. *** fragt sich, wie man Irrtümer denn loswerden solle. Denn Irrtümer zu identifizieren setze einen Beurteilungshorizont voraus, der sei aber subjektiv, nicht objektivierbar (vgl. Sitzungsprotokoll).

Statt „Irrtümer identifizieren“ kann man auch sagen „Wahrheit identifizieren“. Man gerät da aber leicht in einen Selbstwiderspruch, und zwar dann, wenn man das Unvermögen, Wahrheit oder Realität zweifelsfrei zu erkennen, mit dem Unvermögen gleichsetzt, eine „bessere“ Realität herbeizuführen, also eine, welche mit weniger Irrtümern behaftet ist. Eine solche Haltung verabsolutiert gerade die vorherrschende Realität: Es wird jener subjektive Beurteilungshorizont objektiviert, welcher sich mehr oder weniger nahtlos in die vorherrschende Konsensrealität einfügt. Nur der Abweichler muss sich die Frage gefallen lassen, wie er denn Irrtümer identifizieren wolle. Wer diesen Versuch erst gar nicht unternimmt, also mögliche Irrtümer einfach hinnimmt, gilt ohne weiteres als Realist.

Dass Dinge sich verändern, ohne dass sie Gegenstand demokratischer Entscheidfindung sind (vgl. Positionspapier), hat seinen Grund wohl auch in dieser Absage an die Gestaltbarkeit der Realität aus einem falsch verstandenen Relativismus. Dieser zweifelt auch noch das Denken selbst an, und mit ihm dessen Fähigkeit, bessere Möglichkeiten von Realität zu entwerfen: gestaltete Zukunfts-Realität und nicht bloss gewordene, die uns immer nur überfährt. Adorno bezeichnete diesen in einen Selbstwiderspruch geratenden Relativismus als eine „beschränkte Gestalt des Bewusstseins“. Denn Denken ist nur solange frei, wie es mit den Irrtümern nicht auch noch sich selbst anzweifelt.

Sich selbst anzweifeln kann es aber, da es erkennt, dass es Irrtümern unterliegt. Doch es unterliegt ihnen eben nicht nur, sondern erkennt ja auch, dass es ihnen unterliegt. Damit ist das Denken aber auch fähig, Irrtümer zu beseitigen, und unterliegt ihnen nicht (nur). Ein zum Selbstwiderspruch geratender Relativismus beseitigt dagegen den subjektiven Beurteilungshorizont als einzig möglichen. Erst diese Beseitigung macht es unmöglich, Irrtümer zu identifizieren.

Es ist anzunehmen, dass Menschen diesen Selbstwiderspruch im Denken willentlich herbeiführen. Sartre spricht von „la mauvaise foi“: Denken denkt sich absichtlich selbst weg. Über die Motive kann man streiten. Weil Denken den Menschen radikal aussetzt, wählt man den Selbstwiderspruch im Denken m.E. bewusst, um sich nicht zu sehr auszusetzen. Die Unterordnung unter eine Konsensrealität wirkt dagegen integrativ. Adorno wiederum sieht die Motivation im Besitzstandsdenken: „Der Gedanke stört den Erwerb“. Diese Sichtweise greift m.E. zu kurz, denn: Weshalb heulen gerade die Gebückten oft am lautesten mit den Wölfen? Wohl kaum aus der Tagträumerei heraus, zu diesen aufsteigen zu können, sondern um sich deren Schutz zu unterstellen und demjenigen der (sich abzeichnenden) Mehrheit oder einer starken Minderheit. Solche Prozesse können schnell eine unheimliche Eigendynamik entwickeln. Mitlaufen integriert, sich selbst treu bleiben kann dagegen tödlich enden. Das weiss man instinktiv.

Aus welchen Gründen auch immer man das Denken „abstellt“: Gerade kritisch Denkende sollten Relativismus nicht als Ausrede benützen, um sich selbst nicht mehr fragen zu müssen, was gerecht ist und was nicht, und sich für eine gerechtere Realität einsetzen. Der an sich selbst nagende Zweifel hingegen raubt Menschen die Sprache für das hierfür erforderliche Engagement.

Mitglieder des *** sollten dazu ermutigen, dem eigenen, je subjektiven Gerechtigkeitsempfinden wieder mehr zu vertrauen und diesem gemäss zu handeln, statt nur die Irrtumsanfälligkeit und Unwissenschaftlichkeit von Subjektivität hervorzukehren. Denn dieser Schuss geht wie gezeigt oft nach hinten los. Der *** sollte einem „Aufstand des Gewissens“ (Jean Ziegler) das Wort reden und dazu aufrufen, Irrtümer gemeinsam, demokratisch loszuwerden. Das heisst: Zum Willen ermutigen, die je eigenen Irrtümer zu identifizieren. Denn sie lassen sich identifizieren, aber eben nur, wenn man das überhaupt will.

Zu selbständigen Denken ermutigt, wer Fragen in den Raum stellt. Die allerärgsten Irrtümer wird man vielleicht gerade nicht dadurch los, dass man sie für andere identifiziert und diesen auftischt. *** hat mich schliesslich auch mit einer Frage aus der Reserve gelockt. Jedenfalls gälte es m.E., sich bei der Wahl der Mittel stets zu fragen: „Wie bringe ich Menschen dazu, sich in ihren Vorurteilen (und das kann nur heissen: in ihrem Beweggrund, nicht selbst urteilen zu wollen, was ja das Vorhandensein von Vorurteilen erst ermöglicht) selbst fragwürdig zu werden?“

Samstag, 27. August 2011

Das „Eritreer-Problem lösen“

(Basellandschaftliche Zeitung vom 27. August 2011, www.infosperber.ch)


In einem Beitrag auf der politischen Plattform Vimentis mit dem Titel «Asyl-Irrsinn endlich stoppen» fordert SVP-Hardliner Hans Fehr, das «Eritreer-Problem» mit einem dringlichen Bundesbeschluss zu «lösen». Ziel dieser Forderung, die vor vier Jahren schon vom damaligen Justizminister Blocher erhoben wurde, ist die Streichung von Dienstverweigerung als Asylgrund. Auf den ersten Blick leuchtet dieses Anliegen ein. Schliesslich nimmt auch kein anderes Land einen Schweizer auf, der nicht in die RS will. Zu fragen wäre aber, was in einer Diktatur unter Dienst zu verstehen ist.


Eritrea wird von der «Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit» regiert. Das Regime übt eine totalitäre Kontrolle aus. Amnesty International zufolge werden Regierungskritiker, Deserteure und Eritreer, die im Ausland um Asyl nachgesucht haben, inhaftiert und gefoltert. Der US-Menschenrechtsreport berichtet von aussergesetzlichen Exekutionen und von Folter bis zum Tod. Der Militärdienst dient massgeblich einer sozialen Indoktrinierung: Junge Eritreer werden von ihrem sozialen Umfeld abgekoppelt und isoliert. Laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sollten die Rekruten im Zuge dieses Umerziehungsprozesses alle bisherigen ethnischen, religiösen und sozialen Bindungen zugunsten einer vollständigen Unterordnung aufgeben. Angesichts solcher Fakten ist es nur zynisch, bei jungen Flüchtlingen aus Eritrea von «Dienstverweigerern» zu sprechen. Junge Eritreer werden nicht zu einem Militärdienst aufgeboten, wie wir ihn kennen, sondern in Umerziehungslager gesteckt und für einen Bürgerkrieg zwangsverpflichtet. Abgewiesenen Asylbewerbern aus Eritrea droht in ihrer Heimat Folter oder Tod.


Das zwingende Völkerrecht verbietet die Ausschaffung von Flüchtlingen in solche Länder. Wenn SVP-Exponenten die Ausschaffung angeblicher «Scheinasylanten» in solche Staaten fordern, strafen sie sämtliche Beteuerungen Lügen, wonach es ihnen nicht darum gehe, zwingendes Völkerrecht zu verletzen. Dies zu betonen wurden sie während des Abstimmungskampfes um die Ausschaffungsinitiative aber nicht müde. Doch was interessiert mich mein Geschwätz von gestern: Wo nur Macht und persönliche Vorteile zählen, ist es um die Redlichkeit schlecht bestellt.


Die Menschenrechte sind das Fundament einer Demokratie. Wer sich zum Demokraten erklärt, aber die Menschenrechte gering achtet, verschweigt seine wahren Absichten. Die Eritreer, deren einziges «Verbrechen» es war, vor Menschenverächtern zu uns geflohen zu sein, konnten noch nie an freien Wahlen teilnehmen. Wir hingegen geniessen dieses Privileg. Wählen wir im kommenden Herbst Demokraten und nicht jene, die sich nur als solche bezeichnen!


Donnerstag, 30. Juni 2011

Heimatlos – Krise und Chancen der bürgerlichen Mitte

Beitrag zum Buch "Über den Herbst hinaus"

Das Erstarken der Rechtspopulisten hat die Bürgerlichen verfrachtet. Die alte Mitte ist aus dem Lot gefallen. Viele Bürgerliche erscheinen wie gemässigte Rechte. Doch eine wirkliche moderne Mitte wäre was anderes.
Auch dass man die SP neuerdings als „Pol-Partei“ bezeichnet, ist Folge der Radikalisierung im rechten, und nicht im linken politischen Spektrum. Die Bürgerlichen politisieren im Windschatten der Rechtspopulisten. Sie sind wie diese vor allem dem Machterhalt und der Besitzstandwahrung verpflichtet.
Diese Position ausserhalb des Schussfeldes der von der SVP absorbierten Linken wäre für die Bürgerlichen eigentlich bequem, würden sie sich dadurch nicht selbst überflüssig machen. Die Chancen der Bürgerlichen liegen nicht darin, sich einfach wieder auf die urliberale Chancengleichheit oder die christliche Nächstenliebe (säkularisiert: Gerechtigkeit) zu besinnen, denn diese Werte besetzt längst die Linke. Die Bürgerlichen sind so heimatlos geworden und wirken entsprechend desorientiert.
Ihre Krise ist die Krise der Wettbewerbsideologie, an welcher sie festhalten. Doch immer mehr Menschen erkennen sich als Verlierer eines radikalen Wirtschaftswettbewerbs. Selbst die Wirtschaft scheint langsam hellhörig zu werden. Das falsche Paradigma der Fremdmotivation macht zwar noch immer Schule, allmählich setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass nicht allein äussere Anreize, sondern innere Begeisterung Mitarbeiter motiviert.

Doch Kritik an herrschenden Ideologien richtet sich auch gegen eigene Weltbilder und Wunschwahrheiten. Deshalb glauben Menschen an das System und stützen es. Diese Systemblindheit nützen Rechtspopulisten geschickt und skrupellos aus, indem sie für die Frustrationen der Verlierer Ventile anbieten. Auf Kosten von Linken, Scheinbürgerlichen, Fremden, Europa und überhaupt allem, womit man sich nicht identifizieren will, kann so Dampf abgelassen werden. Das System selbst, Hauptursache der Frustrationen, wird dadurch vor Anfechtungen geschützt.
Der Preis dafür ist hoch: Verführte und Verführer spalten die Gesellschaft: diese aus Macht- und Geldgier, jene aus einer Mischung aus Blindheit und Bequemlichkeit. „Die Politik“ oder „der Staat“ werden als korrupt und bevormundend verteufelt, „unsere direkte Demokratie“ oder „die Schweiz“ mystifiziert und glorifiziert. Gesellschaft als Ort von Freiheit und Fremdbestimmung erscheint nicht mehr als komplexe Realität, in welcher sich Freiheit (Selbstbestimmung) und Fremdbestimmung vielfältig verschränken, sondern wird verkürzt und verabsolutiert, erscheint als ideologische Abspaltung – je nachdem entweder als Heilige oder als Hure.

Wettbewerbsideologie
Das Dogma der Wettbewerbsideologie lautet: „Was einem selbst nützt, nützt schliesslich allen, also auch den Schwachen“. Wie stark wir glauben anstatt zu zweifeln, verdeutlicht folgende Zeitungsmeldung:

„Verhält sich ein Fisch egoistisch, kann das dem ganzen Schwarm nützen. Das konnten Biologen jetzt nachweisen. Laut den Forschern lassen sich die Ergebnisse bis zu einem gewissen Grad auch auf uns Menschen übertragen – und gezielt nutzen, zum Beispiel im Bereich Umweltschutz: Hätte klimafreundliches Handeln einen direkten Nutzen, etwa durch Steuereinsparungen, dann würden viele aus egoistischen Gründen zu Klimaschützern – was der ganzen Gesellschaft zugute käme.“

Diese Meldung aus „20 Minuten“ bringt uns nicht sonderlich ins Grübeln. Doch was uns stutzig machen müsste, steht zwischen den Zeilen: Wie verbissen Naturwissenschaftler offenbar das Unmögliche versuchen, nämlich den inneren Widerspruch der Wettbewerbsideologie aufzulösen. Denn Wettbewerb nützt den Schwachen prinzipiell nie – dies ist ja gerade sein Zweck! Ideologie ist, wenn man trotzdem glaubt.

Natürlich liegt dem Dogma der Wettbewerbsideologie der Gedanke zugrunde, Wettbewerb erzeuge insgesamt ein Mehr an Nutzen, von welchem auch die Schwachen profitieren. Letztlich schafft Wettbewerb keinen Mehrnutzen. Aus der Physik weiss man: Natur gleicht alles aus. Der Mensch greift in dieses Gleichgewicht lenkend ein, sollte dies aber ebenfalls ausgleichend, sprich kostenbewusst tun. Denn Nutzen erzielt der Wettbewerb immer entweder auf Kosten der Umwelt und der Zukunft – also auf Kosten, die noch auf uns zukommen und die man nicht messen will – oder auf Kosten menschlicher Würde oder unter Inkaufnahme kreatürlichen Leids – also auf Kosten, die man nicht messen kann.

Das Ideologische an der Ideologie ist der Glaube, in einer Formel liessen sich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf den Menschen verbinden: Eine, die misst und definiert, wer der Stärkere ist, und eine, die menschliche Grösse ermisst. Die Naturwissenschaft vermag nur eine Dimension des Menschen zu erfassen, da der messende Blick die Welt auf eine Dimension reduzieren muss, um Messbarkeit überhaupt herzustellen.
Die andere Dimension ist das Denken selbst. Denken ist wesentlich Begegnen. Solidarität mit den Schwachen ist Ausdruck und Notwendigkeit des Denkens. Wettbewerb zur massgebenden Steuerungskraft einer Gesellschaft zu machen, ist also nicht nur deshalb falsch, weil er Verlierer erzeugt, sondern weil er den Menschen reduziert. Er entwürdigt auch die Gewinner. Der Fisch ist in seinem Element. Der Mensch aber lebt in zwei Sphären, ist wesentlich heimatlos und offen. Er befindet sich anders in der Schwebe. Erst dies aber macht ihn zu einem „ganzen“ Menschen.

Chancen der bürgerlichen Mitte
Die Chance der bürgerlichen Mitte liegt im Bekenntnis zu diesem „ganzen“ Menschen. Die zukünftige Trennlinie in der Politik verläuft zwischen Handlungswilligen, die dem „ganzen“ Menschen verpflichtet sind, und Verhinderern, welche an einem funktionalistischen Bild des Menschen festhalten, wo Freiheit, Verantwortung und Würde gar keinen Platz haben.
Die Finanzkrise war wohl nur der Vorgeschmack auf eine kommende Krise mit noch tiefer greifenden Folgen. Welcher Art diese Folgen sein werden und wie geordnet der zu erwartende Wandel verlaufen wird, hängt wesentlich davon ab, wie schnell und konsequent sich die Mitte-Parteien zum Handeln durchringen, wie schnell und vorbehaltlos sie Interessenspolitik als ausschliesslichen Dienst am Stärkeren ablehnen und Politik wieder als das betreiben, was sie sein sollte: Dienst aus Verantwortung und Dienst an der Freiheit, welche alles andere ist als Egoismus. Eine Politik aber auch, welche nicht ebenfalls gläubig wird, indem sie meint, Egoismus liesse sich aus der Welt schaffen. Eine Politik also, die den Wettbewerb als durchaus nützlichen Regelungsmechanismus richtig einzusetzen weiss, und nicht meint, absolut auf ihn verzichten zu können.
Sofern die Bürgerlichen den Absatz aus der Präambel unserer Verfassung beherzigen, wonach sich die Stärke einer Gemeinschaft am Wohl der Schwächsten bemisst, liegt ihre Chance in der Betonung eines besonnenen Wegs zum gemeinsamen Ziel und in einer Vermittlerrolle zwischen den Handlungswilligen und denjenigen, die sich entweder verzweifelt oder bequem am Bisherigen festklammern.
Eine Koalition der Willigen fordert die Handlungsfähigkeit zurück, welche die Politik im Standort- und Steuerwettbewerb seit den 90er-Jahren an die Wirtschaft verloren hat. Will sich die bürgerliche Mitte dieser Koalition anschliessen, muss sie sich vom Besitzstandsdenken verabschieden, welches sich mit der SVP gleich einem Geist, den man gerufen hat und nun nicht mehr los wird, längst verselbständigt hat und ausser Kontrolle geraten ist.

Alternativlos: Aufklärung
Die Aufklärung ist nicht nur eine Zeitepoche, sondern muss von jeder Generation neu geleistet werden. Sie erfordert mehr als 20 Minuten und bedarf des „ganzen“ Menschen. Gegen Ideologie hilft weder Physik noch Biologie, sondern nur Ideologiekritik, die Befähigung zur Kritik, die an allen Schulen in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Aufklärung bedarf eines zündenden Funkens. Einmal entzündet, kann sie zu einer Leidenschaft werden, die angesichts des spezifisch menschlichen Leidens am Dasein aus sich selbst heraus wächst.

Mittwoch, 22. Juni 2011

Durchbruch

Beitrag auf www.rettet-basel.ch

Der Beitrag von Christine Richard über das Zoon Politikon (BaZ 22.6.2011, S. 6) ist hervorragend. Weshalb liegt Freiheit im Anfangenkönnen beschlossen, wie Hannah Arendt sagt? Freiheit ist, wenn wir als Gemeinschaftswesen (oder Zoon Politikon) anderen Menschen begegnen (aber gerade nicht als Zoon, als wettbewerbsgelenktes "animal rational"!) und in ihnen uns selbst. Freiheit ist die Losgelassenheit des begegnenden, auch sich selbst begegnenden Bewusstseins, und ist leider nicht gratis. Begegnen kann es nur in der Gegenwart, im Anfang, nie durch Streben, das seinen Anfang schon hinter sich hat und im Scheinhaften lebt: In der vor-gestellten Zukunft, in Illusionen, Ideologien, Wünschen, Hoffnungen, auch: Religion. Religio heisst: Rückbindung. Vor-gestellte Zukunft ist zurückgebundene Gegenwart, Rückversicherung statt Leben,Verbauung von Freiheit durch Vor-Bestimmung und Vor-Orientierung, Gegenwartsvergessenheit, Entfremdung, letztlich Leben in selbst verschuldeter Unmündigkeit und Blindheit. Aussagen dieser Art dürfen bestritten werden und müssen es auch, aber nicht, weil sie in kein Raster passen oder sich nicht "wissenschaftlich" beweisen lassen. Doch deshalb, und weil sie einen eindimensionalen Begriff vom Menschen und von Profit haben, fordern Systemblinde die Abschaffung der Geisteswissenschaften an unseren Universitäten, einfach nicht so unverblümt: Sie schwafeln von "Eliteuniversitäten" und fordern ein kreditfinanziertes Studium. Man könnte wissen, welche Sicht auf den Menschen sich als "profitabler" erweist, wenn man wollte. Und man sollte es wissen wollen, also mutig sein, denn "dann kommt es zum Durchbruch", wie Christine Richard schon fast seherisch schreibt. Zum Befreiungsschlag nicht nur in der Politik, sondern vor allem im eigenen Kopf!

Montag, 13. Juni 2011

Wir alle tragen eine Verantwortung – auch für andere

Leserbrief im Wochenblatt für das Laufental und Schwarzbubenland, 16. Juni 2011

Leserbriefe, deren Inhalt sich in Unterstellungen und Ausfälligkeiten erschöpft, sind nur insoweit erhellend, als sie ein Licht auf die Frustrationen des Verfassers werfen. Bedenklich ist, dass gewisse Politiker sich des Frustrationspotentials solcher Menschen bedienen und dabei immer rücksichtsloser vorgehen.

Sie machen vor, wie man am bequemsten Luft ablässt: Durch Ausgrenzung, also auf Kosten anderer Menschen oder Gruppen. Sie machen vor, wie man andere Gruppen, zum Beispiel Leistungsträger unserer Gesellschaft (Lehrer, Richter, Sozialarbeiter etc), verächtlich macht: Indem man ihnen pauschal unlautere oder egoistische Motive unterstellt. Sie machen vor, wie man Schamgrenzen überschreitet: Indem man selbst die allerdümmsten Bemerkungen als „eigene Meinung“ beschönigt, auf welche man schliesslich ein Anrecht habe – verbunden mit dem Hinweis, dass in einer Demokratie jede Meinung gleich viel „wert“ sei. Populisten bieten Menschen so ein Ventil für ihre Frustrationen. Dadurch machen sie Menschen von sich abhängig und gewinnen Macht.

Weil Macht für Populisten alles bedeutet, sind ihnen drei Dinge völlig egal: Erstens, dass es menschenverachtend ist, andere Menschen auszugrenzen. Zweitens, dass es menschenverachtend ist, frustrierte Menschen für die Ausgrenzung anderer Menschen zu instrumentalisieren, und drittens, dass sie mit Ausgrenzung eine Spaltung der Gesellschaft billigend in Kauf nehmen.

In einer Demokratie hat jede Freiheit Grenzen. Meinungsäusserungsfreiheit hat dort eine Grenze, wo sie zum Vorwand wird, um am Fundament des demokratischen Meinungsbildungsprozesses zu rütteln, und dieses Fundament ist der gegenseitige Respekt. Wer andere Menschen oder Gruppen beschimpft oder ihnen pauschal unlautere Motive unterstellt, verletzt das Gebot des gegenseitigen Respekts.
Wir alle tragen eine Verantwortung dafür, dass der gegenseitige Respekt in unserer Gesellschaft gewahrt bleibt, auch die Medien. Indem sie Leserbriefe veröffentlichen, die ausser Rundumschlägen nichts hergeben, lassen sie diese Verantwortung vermissen – gegenüber der Gesellschaft, aber auch gegenüber Leserbriefschreibern, die sich mit dümmlichen Bemerkungen vor allen blossstellen.

Montag, 30. Mai 2011

Demokratie ohne Grundrechte ergibt keinen Sinn

Einige Gedanken aus daseinsanalytischer Sicht
Referat von Matthias Bertschinger anlässlich der Podiumsdiskussion „Chancen und Risiken der direkten Demokratie in der Schweiz“ vom 28. Mai 2011 mit Andreas Gross und Remo Ankli in Breitenbach/SO.

Wenn wir heute von einer Krise der Demokratie sprechen, geht es um zwei Dinge:
Erstens: Darum, dass Demokratie instrumentalisiert wird für Ausgrenzung – z.B. zum Schüren von Fremdenfeindlichkeit.
Und zweitens darum, dass die Demokratie durch diesen Missbrauch auch selbst Schaden nimmt.
***
Ich möchte zuerst versuchen, einen Eindruck von der Komplexität der Thematik zu vermitteln:
In einem ersten Schritt könnte man sich fragen, wie Ausgrenzungsreflexe anthropologisch funktionieren, und was gegen diese getan werden kann.
Dann könnte man aufzeigen, wie die Demokratie von Populisten zur Verstärkung von Ausgrenzungsreflexen instrumentalisiert wird, und welche (zusätzlichen) Gefahren sich daraus ergeben –
erstens für den Zusammenhalt und somit die Sicherheit unserer Gesellschaft (hier gälte es dann aufzuzeigen, dass die Welt nicht durch das Schüren von Ausgrenzungs- und Ausschaffungsreflexen, sondern im Gegenteil durch mehr Kooperation sicherer wird).
Und zweitens: dass sich daraus auch eine Gefahr für das Funktionieren der Demokratie selbst ergibt (was dann der Fall ist, wenn Volksinitiativen, die unsere Ausgrenzungsreflexe bedienen, auch noch unsere Grundrechte verletzen.)
In einem dritten Schritt könnte man aufzeigen, dass die Demokratie tatsächlich auf Werten beruht, wie sie in unseren Grundrechten formuliert sind, und zwar
in einem juristischen, also technischen Sinne (dass also Demokratie ohne Grundrechte nicht funktioniert)
und dass die Demokratie auch von ihrer Idee her auf Werten beruht, wie sie in unseren Grundrechten formuliert sind (dass also Demokratie ohne diese Werte nicht nur nicht funktioniert, sondern auch gar keinen Sinn ergibt.)
In einem vierten Schritt könnte man dann darlegen, wie diese Werte geschützt oder gestärkt werden könnten. Hierbei könnte man ebenfalls zwischen
einer juristisch-technischen Stossrichtung unterscheiden, die zum Ziel hat, unsere Grundrechte rechtlich besser zu schützen
und einer grundlegenderen Stossrichtung, welche zum Ergebnis hätte, dass der Aufklärung und den Geisteswissenschaften wieder ein viel grösserer Stellenwert einzuräumen ist in unserer Gesellschaft.
Schliesslich könnte man sich fragen, ob die direkte Demokratie vielleicht eine besonders geeignete Einrichtung ist, um Demokratie zu üben, um nicht ganz zu vergessen, wem sie dient.
***
Ich möchte nur einen einzigen Punkt näher beleuchten in meinem Referat, nämlich weshalb Demokratie ohne Grundrechte gar keinen Sinn ergibt.
Dafür muss ich aber vorher kurz etwas zur Logik von Ausgrenzungsreflexen sagen.
*
Ausgrenzungsreflexe entstehen, wenn Bedrohungen, etwa in Gestalt von Umweltkrisen oder Arbeitslosigkeit, zunehmen.
Solche äusseren Bedrohungen erinnern uns auch an eine viel grundlegendere „innere“ Bedrohung, welche in unserem Dasein selbst liegt: Sie wecken unser Wissen um unsere Sterblichkeit.
Diese bedrohliche Seite unseres Daseins vermögen wir in normalen Zeiten mit Hilfe des „Courant normal“ zu überspielen und zu verdrängen (oder durch die „Aufrechterhaltung des Betriebs“, wie Heidegger dem sagt).
Wenn wir dies in Krisenzeiten nun nicht mehr so ohne weiteres können, kann das auch positive Seiten haben. Ich erwähne nur eine: Wir realisieren, dass wir auf unserem Planeten alle im gleichen Boot sitzen und beginnen vielleicht, unsere gemeinsamen Probleme endlich zu lösen, und zwar gemeinsam.
Bedenklich ist aber, dass wir entwicklungsgeschichtlich anscheinend so veranlagt sind, dass wir auf wachsende Bedrohung lieber mit Abwehr reagieren anstatt zu überlegen.
Wir rotten uns bei Gefahr im engeren Umkreis zusammen, und setzen unser archaisches, Halt-stiftende Wir-Gefühl dem Abgründigen einer wachsenden Bedrohung entgegen. Das geht aber nur, wenn wir uns gleichzeitig von Gruppen im weiteren Umkreis und deren Angehörigen abgrenzen und das Bedrohliche in diese projizieren.
Dadurch geraten wir aber in Teufels Küche, denn das Ergebnis ist wachsende Feindseligkeit, was bestehende Probleme nur noch verstärkt oder neue Probleme schafft.
Das dümmste, was wir in Krisenzeiten also tun können, ist ein unreflektiertes Hochhalten unserer Heimat. „Unsere direkte Demokratie“ wird übrigens genauso wie unsere Heimat oder seinerzeit die Armee längst zu einem unantastbaren, Identität stiftenden Mythos stilisiert, dabei könnten wir von anderen, eben nicht nur sog. halbbatzigen, sondern im Gegenteil modernen Demokratien, in vielerlei Hinsicht lernen.
Wenn wir aus Angst vor Bedrohung in die Abwehr flüchten, werden wir also nicht nur kooperationsunfähig, sondern auch noch lern- und reformunfähig.
***
Die direkte Demokratie bietet eine besonders gute Möglichkeit für Demagogen, um gegen Fremde und Fremdes zu hetzen. Konrad Adenauer hat deshalb einmal gesagt, die direkte Demokratie sei ein Geschenk an Demagogen.
In einer direkten Demokratie müssten Grundrechte daher rechtlich besonders gut geschützt werden – besser als in einer indirekten Demokratie.
Doch das genaue Gegenteil ist der Fall.
***
Um zu veranschaulichen, weshalb eine Demokratie ohne Grundrechte rein technisch nicht funktioniert, und deshalb das Volk nicht alles dürfen kann, behelfe ich mir gerne eines simplen Beispiels:
Wenn in einer eidgenössischen Volksabstimmung ganz „demokratisch“ beschlossen würde, den Schwarzbuben das Stimmrecht zu entziehen, wäre die nächste Abstimmung nicht mehr demokratisch, weil nicht mehr auf einem Mehrheitsentscheid sämtlicher Schweizerinnen und Schweizer beruhend.
***
Jetzt aber zur Erklärung, weshalb die Demokratie ohne die Werte, welche in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, ohne das Hochhalten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, nicht nur technisch nicht funktioniert, wie gerade gezeigt, sondern auch gar keinen Sinn ergibt.
In der Natur gilt das Recht des Stärkeren. Auch wenn Tiere ebenfalls Mitgefühl kennen (wie wir etwa von Jörg Hess wissen, dem Primatenforscher) setzt der Stärkere sich durch, sobald er dies will.
Wenn ein Mächtiger tut und lässt, was ihm beliebt, muss er jedenfalls keinen Gedanken verschwenden an die Frage, was Freiheit ist. Ihm genügt das Naturgesetz. Wer die Respektierung seiner Freiheit fordert (was mehr ist als zu versuchen, einen Stärkeren zu bezwingen, zu beschwichtigen oder sich diesem zu entziehen) stellt sich gegen dieses Naturgesetz des Stärkeren.
Aber aus welcher Anwandlung, und mit welchem Recht?
Ich meine aus der Erkenntnis, dass der Mensch (ungeachtet der vielen Fehlschlüsse, die daraus gezogen werden) eben nicht nur Teil der Natur ist, sondern sich gleichzeitig über diese erhebt – und zwar durch sein Bewusstsein.
Nun muss ich mir natürlich die Frage gefallen lassen, weshalb das Bewusstsein den Menschen denn über das Tierreich erheben soll. Ist Bewusstsein für den Menschen nicht, was dem Tiger seine Reisszähne, also einfach ein Werkzeug, um zu überleben?
Ich meine nein, und zwar mit Blick auf unser mehr oder weniger verdrängte Wissen um unser „Sein-zum-Tode“, mit Blick auf unser Wissen um unsere Sterblichkeit.
Dieses Wissen scheint mir jedenfalls alles andere als nützlich, um sich durchs Leben zu schlagen. Aber das ist nicht der springende Punkt, sondern, dass das Erkennen seines „Seins-zum-Tode“ wohl auch der Schlüssel ist zur Erkenntnis der tieferen Bedeutung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und letztlich auch Demokratie:
Dort wo es uns nämlich gelingt, uns unserer Vergänglichkeit zu stellen, anstatt dauernd vor diesem Trauma zu fliehen, also von der Daueranstrengung des Verdrängens abzulassen, loszulassen und unser Bewusstsein dadurch zu befreien, erkennen wir, wie viel von unserem Tun und Lassen, oder wie wir Dinge tun, massgeblich dem Zweck dient, uns über unsere eigene Nichtigkeit hinwegzutäuschen.
Wir erkennen, wie unser Bewusstsein unablässig damit beschäftigt ist, sich diese dunklen Bewusstseinsinhalte unbewusst zu machen, und sich dadurch selbst gefangen hält.
Wir erkennen, wie unser Bewusstsein ständig vor sich selbst flieht, und sich dessen folglich auch selten bewusst ist.
Das menschliche Bewusstsein hat unzählige Techniken solcher Selbsttäuschungsmanöver entwickelt, und bedient sich dafür auch seiner Triebstruktur, was den Menschen noch tierischer machen kann als jedes Tier.
Er kann z.B. die Augen zumachen, wie kleine Kinder bei drohender Gefahr.
Oder er kann vergleichend seitwärts blicken, um sich seiner Halt-bietenden Position im schützenden Gruppengefüge zu vergewissern, stets darauf bedacht, diese Position zu behaupten und noch auszubauen, um so nicht vorwärts blicken zu müssen in eine Zukunft, von welcher Gefahr droht, so oder so (Dieter Thomä hat kürzlich in der NZZ darüber geschrieben).
J.-P. Sartre beschreibt auch eine solche Technik und nennt sie „la mauvaise foi“, ein Abwiegeln, ein Beschwichtigen.
Gewisse sog. psychische „Krankheiten“ werden plötzlich begreifbar als eine solche Technik der Selbsttäuschung, ganz zu schweigen von all den neurotischen Verhaltensweisen, welche längst normal sind in unserer Gesellschaft oder sogar als vorbildlich gelten, von Süchten bis hin zum Sparzwang und Putzwahn, welche letztlich alle jenem Ausblenden der eigenen Sterblichkeit, Nichtigkeit und Ohnmacht dienen.
Sogar sog. böse Menschen erscheinen (ich verweise auf das neue Buch von Terry Eagleton) als Menschen, welche am Schicksal ihres unausweichlichen Scheiterns verzweifeln und deshalb den verzweifelten Versuch unternehmen, ihre eigene Nichtigkeit zu vernichten, indem sie diese auf andere projizieren, um sie dort zu bekämpfen.
Aber was der „Böse“ eigentlich sucht, nämlich Befreiung von seiner Wissenslast bzw. von seinem Wissen als Last, findet er so nie.
Mit dieser Offenheit gegen sich selbst wird also selbst „das Böse“ verstehbar (welches wir so gerne als unerklärlich erklären, um es nicht als eine mögliche Technik der Selbsttäuschung auch in uns selbst entdecken zu müssen).
*
In den Momenten also, wo unserem Bewusstsein dieser Befreiungsakt gelingt, erkennen wir im Mitmenschen dasselbe verängstigte Kind, welches wir selbst sind:
Ein traumatisiertes Wesen, das genauso wie wir selbst (vermittels seiner individuellen Technik) vor seinem Schicksal flieht, weil es von diesem komplett überfordert ist.
Was wir hier erhalten ist einen Begriff von verstehendem Mitleid (nicht von Mitleidigkeit, sondern einer Weise des Erkennens).
Insoweit wir uns unserer Sterblichkeit stellen und diesen Tod innerhalb des Lebens annehmen, was Jesus am Kreuz symbolisiert, wird „Auferstehung“ möglich, ein „zweites“ Leben, in dem man anders erkennt angesichts des Todes, vor welchem die Menschen fliehen, weil sie sich „Erlösung vom Tode“ ja verständlicherweise in der Abwendung vom Tod erhoffen, und gerade dadurch nicht finden.
(Keine Ostern ohne Karfreitag!)
Wer also Erlösung oder Glück stets von aussen erwartet, von Heilsbringern oder Volksverführern, oder wie der sog. „Böse“ von seinen Opfern oder der Süchtige vom Suchtgegenstand, wird nicht erkennen, was mit Erlösung gemeint ist: Nämlich Freiheit.
Erst wenn wir uns unseren beschränkten Möglichkeiten stellen, werden wir fähig, unsere tatsächlichen Möglichkeiten zu erkennen und zu ergreifen – also Antwort zu geben auf unser Dasein – nicht als eines, wie wir es uns wünschen und erhoffen, sondern wie es im Hier und Jetzt als tatsächliches erscheint und als solches ver-antwortet werden will.
Anderen dieselbe Freiheit, dieselben Chancen und dasselbe Stimmrecht einzuräumen, wie mir selbst, ergibt sich aus der Erkenntnis der fundamentalen Gleichheit aller Menschen angesichts ihres Menschseins, angesichts der heillosen Überforderung, welche das Menschsein an sie stellt, angesichts dieser ungeheuerlichen Zumutung und ihrer Kehrseite: der Freiheit.
Insoweit der Mensch zwischen den beiden Polen Flucht vor Erkenntnis und Erkenntnis umherirrt, ist er Mensch.
Es ist diese Sicht auf den Menschen, welche mich Respekt vor den Mitmenschen lehrt. Vor diesem Hintergrund erscheint das Zugeständnis derselben Freiheit und Rechte an meine Mitmenschen nicht als milde Gabe verweichlichter Gutmenschen an die Schwachen, sondern als Zugeständnis meines Menschseins an mich selbst.
*
Ich habe die mögliche Bedeutung des Christentums für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hervorgehoben, statt wie üblich die Aufklärung. In beiden Fällen aber gilt, dass ich die Möglichkeit der Bewusstwerdung und die Fähigkeit zu Demokratie für eine anthropologische, also allen Menschen gemeinsame Fähigkeit halte, und nicht nur für eine Fähigkeit von Menschen aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis. Die Fähigkeit zum Höchsten, was ein Mensch leisten kann, ist allen Menschen gemein: Die Fähigkeit zu Aufrichtigkeit gegen sich selbst.
***
Ganz kurz noch zur Sicherung unserer Demokratie: Unsere Demokratie nur als reines Verfahren oder als sinnentleerten Mythos schützen zu wollen, also nur mit juristischen Mitteln, ist bereits aus folgendem Grund problematisch:
Unser solothurner FDP-Nationalrat Kurt Fluri hat kurz nach der Minarettinitiative in der NZZ folgendes geschrieben: „Schranken können rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklungen zwar behindern, aber notfalls nicht verhindern“.
Was heisst das? Es heisst, dass eine Demokratie ohne Kultur nicht überlebensfähig ist – da kann man regeln und juristische Hürden einbauen, soviel man will. Demokratie setzt eine gelebte demokratische Kultur voraus, eine Kultur der Aufklärung und des Nachdenkens.
*
Die direkte Demokratie bietet öfters Anlass als die indirekte, sich mit den Aufgaben von Staat und Gesellschaft zu befassen.
Obwohl – auch und gerade bei uns – versucht wird, den „Staat“ gegen „die Freiheit“ auszuspielen, kommt es vielleicht durch eine intensiv gelebte demokratische Kultur in einer direkten Demokratie weniger schnell soweit, dass sich das Volk gegen den Staat richtet, weil es dort doch noch etwas schwieriger ist auszublenden, dass das Volk dieser Staat ja selbst ist.Umgekehrt würde ein besserer juristischer Schutz unserer Grundrechte nicht zu einem Verlust von Demokratie führen. Ein zureichender rechtlicher Schutz der Grundrechte, sei es durch Normen oder ein Verfassungsgericht, ist unverzichtbar in einer modernen Demokratie und in anderen Demokratien längst selbstverständlich.

Sonntag, 22. Mai 2011

Die wesentliche Frage

Leserbrief Basler Zeitung, 26. Mai 2011

Immer dieselben Fragen: "Womit was Atomstrom ersetzen?" und "Was das wohl kostet?" Die Antworten auf diese Fragen sind nicht kompliziert: Mit erneuerbaren Energien und vernünftigen Energiesparmassnahmen lassen sich die AKWs ersetzen, es ist bloss eine Frage des politischen Willens. Und: Ja, der Ausstieg kostet, schafft aber umgekehrt viele Arbeitsplätze.
Doch die wesentliche Frage wird in der Atomdebatte zu selten gestellt: Zuwenige fragen, ob es ethisch vertretbar ist, unseren Kindern eine Welt mit diesem Dreck zu hinterlassen. Unsere Kinder werden dereinst nicht demokratisch darüber befinden können, ob sie Verseuchung und Atommüll von uns erben wollen, ohne die geringste Gegenleistung zu erhalten! Soviel an unsere geldfixierten Musterdemokraten.

Sonntag, 15. Mai 2011

Lernunfähig und überheblich

Leserbrief Basler Zeitung, 17. Mai 2011

Somm spielt in seiner samstäglichen Polemik die direkte Demokratie
gegen die Gewaltenteilung aus. Das Bundesgericht fungiert aber für die
direkte Demokratie auf Kantonsebene schon seit jeher als
Verfassungsgericht. Haben wir deshalb in unseren Kantonen nichts mehr
zu sagen? Lückenlose Verfassungsgerichtsbarkeit ist unerlässlich für
eine moderne, rechtsstaatliche Demokratie. Solange wir aber meinen,
unsere Demokratie sei in jeder Hinsicht die beste Demokratie der Welt
- und nicht nur hinsichtlich ihrer direktdemokratischen Ausgestaltung!
- hat der dringend nötige Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit zum
Schutze unserer Freiheitsrechte keine Chance.
Überhaupt gilt: Wo, solange und in dem Masse wie wir Schweizer uns
einreden lassen, wir seien die Besten auf der Welt und das Ausland
bloss neidisch und deshalb feindselig, sind wir lern-, reform- und
kooperationsunfähig - nichts weiter als überhebliche Bünzlis. Von
aufgeklärten Zeitgenossen wünschte ich mir, sie wären angesichts der
gefährlichen Öisi-Heimet-Verblödung peinlich berührt und besorgt,
würden deshalb nicht länger schweigen und nach Kräften darauf
hinweisen, dass wer dem Volk in Werbung und Politik ständig Honig ums
Maul streicht, diesem entgegen dem Anschein nicht verpflichtet ist,
sondern es verachtet und missbraucht!

Lieber ein Weichei als ein Populist!

Leserbrief in der Basler Zeitung, 16. Mai 2011

Politologe Ruloff bezeichnet die Argumente gegen die Tötung von Bin
Laden von "Bedenkenträgern aus den Hochschulen, namentlich von
Völkerrechtlern", als weltfremd. Seiner Ansicht nach durfte man Bin
Laden töten, da er sich selbst im Krieg mit Amerika sah. Bei der
Beurteilung der Frage, ob jemand Kriegspartei ist, ist hingegen
irrelevant, als was sich die betreffende Partei selbst bezeichnet. Für
den Rechtsstaat bin ich ja auch nicht bereits deshalb ein Verbrecher,
weil ich mich als solchen bezeichne. Dani Vischer bringt es in seiner
Kolumne in derselben BaZ-Ausgabe auf den Punkt: Dass Kritiker des
Einsatzes gegen Bin Laden als realitätsfremde Weicheier betitelt
werden zeige, wie schmal auch bei uns der Konsens über Demokratie und
Rechtstaat bereits ist. Wenn aber Universitätsprofessoren pauschal
gegen Völkerrechtler poltern und sich gedankenlos gegen das
Rechtsstaatsprinzip wenden, wirft dies nicht nur ein schlechtes Licht
auf den Zustand unserer Demokratie.

Sonntag, 1. Mai 2011

Transparenz in der Parteienfinanzierung

Leserbrief zu "Transparenz ist kein Selbstzweck", NZZ vom 30. April 2011, S. 25,
leicht gekürzt erschienen in der NZZ vom 3. Mai 2011


Sind Parteien, welche die Interessen der Schwachen oder der Umwelt vertreten, tatsächlich nur Partikularinteressen verpflichtet, oder sind sie nicht im Gegenteil dem Interessenausgleich, dem Allgemeinwohl selbst verpflichtet? Der Glaube, dass in einem Wettkampf der unterschiedlichen Partikularinteressen, bei welchem per definitionem stets nur der Stärkere gewinnt und keineswegs alle, dem Allgemeinwohl wie durch Zauberhand dennoch am besten gedient sei, gehörte als ein besonders dümmlicher längst in die Mottenkiste vergangener Ideologien. Man predige doch diese Wettbewerbsweisheit einmal von Angesicht zu Angesicht den Leidtragenden der Finanz- und zahlreichen Umweltkrisen! Ich wünsche jedenfalls viel Vergnügen dabei.
"Beispiele wie die Sozial- oder Umweltpolitik haben gezeigt, dass sich auch allgemeine, heterogene Interessen gegenüber selektiven Verbandsinteressen zu organisieren und durchzusetzen vermögen", schreibt die NZZ. Ja, aber keineswegs wegen, sondern da und dort trotz dem System, trotz der besseren Startvoraussetzungen derjenigen Kräfte, welche viel mehr Geldmittel im Rücken haben, weil sie den Partikularinteressen ihrer Geldgeber dienen. Dass denjenigen Kräften, welche dem Allgemeinwohl (oder propagandistisch ausgedrückt den "Partikularinteressen" der Mittellosen) verpflichtet sind gleich viele Mittel zur Verfügung stehen für ihren Wahl- und Abstimmungskampf wie denjenigen, die sich kaufen lassen und sich damit der Demokratie bloss bedienen, statt dem Allgemeinwohl zu dienen, wäre doch wohl das Mindeste! Nebst Transparenz ist deshalb auch staatliche Parteienfinanzierung ein Gebot der Demokratie, so abschreckend dies in gewissen Ohren klingen mag.

Montag, 25. April 2011

Antwort an Peter M. Linz

Peter M. Linz, AUNS-Mitglied und Vizepräsident der SVP Schwarzbubenland, fordert mich in seinem Leserbrief auf, statt immer nur zu kritisieren aufzuzeigen, wie die direkte Demokratie und unsere Verfassung vor „EU-Imperialismus“, der anmassenden UNO und „sonstigem internationalen Recht“ geschützt werden kann. Das ist, wie wenn Herr Linz mich auffordern würde, endlich Lösungen aufzuzeigen gegen das zunehmend frecher werdende Auftreten des Burggeistes zu Gilgenberg. Ich kann daher nur versuchen, Herrn Linz nahe zu legen, nicht hinter allem böse Gespenster zu vermuten. Auf einen von Herrn Linz ebenfalls geforderten konkreten Lösungsvorschlag in Zusammenhang mit dem Energie- und Migrationsproblem werde ich hingegen hinweisen können.



Im Gegensatz zu Herrn Linz sehe ich im internationalen Recht nicht ausschliesslich etwas Bedrohliches. Internationales Recht kann im Gegenteil die Demokratie und die freiheitliche Verfassung eines Staates schützen. Diesem Zweck dient zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK): Ohne Grundrechte ist Demokratie undenkbar (vgl. meine „Denkpause“ mit dem Titel „Das Volk hat immer recht!“), und die EMRK schützt unsere Grundrechte dort, wo es ein Nationalstaat mit dem Grundrechtsschutz seiner Bürgerinnen und Bürger nicht so ernst nimmt und der staatliche Übergriff droht – auch infolge eines demokratischen Volksentscheids. Ich bin deshalb froh, gibt es die EMRK, welche mich in meinem Minderheitendasein als Muslim, Katholik, Linker, SVPler, Homosexueller oder Querdenker vor einem Staat schützt, sollte dieser mir Minderheitenschutz verwehren.



Wer die EU pauschal als bösen Feind und undemokratisches Gebilde hinstellt, erweist der Demokratie einen Bärendienst: Wir befinden uns im Herzen Europas und sind von der Vereinheitlichung des Rechts betroffen, ob wir wollen oder nicht. Als Nichtmitglied können wir im demokratisch legitimierten Ministerrat oder EU-Parlament hingegen bei dieser Rechtsvereinheitlichung nicht mitbestimmen, und dies ist zutiefst undemokratisch.



Statt jeden zukunftsweisenden Lösungsansatz zu verteufeln, gälte es endlich zu erkennen, dass die Menschheit im Atomzeitalter ihre Probleme nur noch gemeinsam lösen kann, und zwar durch Transnationalisierung von Demokratie. Wir sitzen alle im selben Boot und haben seit 1945 enorm viel Glück gehabt, man denke nur an die Kuba-Krise oder daran, was sonst noch alles hätte schief gehen können. Wer einwendet, dass Völker sich schon immer bekriegt hätten und mehr Kooperation als Utopie bezeichnet, nimmt einen unbewohnbaren Planeten nicht nur vorauseilend in Kauf, sondern trägt durch sein Nichtstun dazu bei, dass Utopien Utopien bleiben und sich die eigene pessimistische Prophezeiung bewahrheitet. Gerade die Entstehungsgeschichte der Schweiz zeigt, dass das vermeintlich Unmögliche auch gelingen kann. Man muss nur wollen.



Auch die Zuwanderung gehört zu jenen zurzeit wahltaktisch in übelster Weise instrumentalisierten „Problemen“, die man in einer zunehmend vernetzten Welt nur noch durch Kooperation mit anderen Staaten lösen kann. Projekte wie „Desertec“ sind hier wegweisend: Dieses Projekt würde hier Energie- und dort wirtschaftliche Probleme lösen helfen und so insgesamt dazu beitragen, Migration einzudämmen. Solche Projekte stehen für Win-Win-Lösungen, wie wir sie heute bräuchten. Auch hier gilt: Man müsste nur wollen.



Wer hingegen mit Traugott Wahlen, Rudolf Minger und General Guisan dem Trugbild einer sich selbst versorgenden Schweiz erliegt und meint, man sei vom 2. Weltkrieg massgeblich dank der eigenen Wehrhaftigkeit verschont geblieben, macht sich zum nützlichen Geschichtsklitterer gewisser Milliardäre, die ein wirtschaftliches und persönliches Interesse daran haben, dass sich die Schweiz nicht oder nur noch rückwärts bewegt.



Respekt und Kooperation sind die Maximen einer Politik des 21. Jahrhundert, meint deshalb Helmut Schmidt, und der Nunninger Historiker Urs Altermatt mahnt: „Die Schweiz muss in die EU – früher oder später“. EU und UNO sind als Friedensprojekte gedacht. Diese Institutionen sind nicht in erster Linie, als was sie sich uns gegenwärtig darstellen, und schon gar nicht des Teufels, sondern, was wir aus ihnen machen werden!



Der zunehmende nationalistische Trend in Europa macht mir grosse Sorgen, denn zu erwartende Krisen (Energieknappheit, „Peak Oil“ etc.) können bewirken, dass bestehende Konflikte blitzschnell eskalieren. Mehr Kooperation ist zunächst und immer ein Wagnis, schwieriger und unbequemer als der Rückzug ins vertraute Schneckenhaus. Rückschläge sind zudem nie Beweis dafür, dass Kooperation nicht funktioniert, und es ist hämisch, internationale Zusammenarbeit überall zu bekämpfen und danach süffisant zu bemerken, diese funktioniere nicht und Völkergemeinschaft sei eine unrealistische Utopie von Gutmenschen.



Der Erfolg der Verhinderungspolitik von SVP, AUNS und anderer nationalistischer und populistischer Bewegungen in Europa und den USA gäbe mir eigentlich wenig Anlass zur Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft für meine Kinder. Aber hätte ich diese bereits aufgegeben, würde ich im Wochenblatt und anderswo nicht länger kritisieren und den „schrecklichen Vereinfachern“ mit ihren „simplen Lösungsansätzen“ (Remo Ankli in seiner letzten „Denkpause“) widersprechen. Ich möchte damit auch andere ermutigen, sich ebenfalls einzumischen. Unsere direkte Demokratie funktioniert nur, solange Menschen öffentlich darüber debattieren, was die Gesellschaft vorwärts bringt - und was nicht. Dies gilt auch und gerade für die Frage, welche Art von Debatten uns vorwärts bringen - und welche nicht. Und hier plädiere ich eindringlich für mehr Kopf und etwas weniger Angst!

Sonntag, 24. April 2011

Jesus – Störer stiller Freuden

(Gekürzt in der BaZ vom 29. April 2011, ungekürzt auf der webpage von "Rettet Basel")

In der BaZ predigen in letzter Zeit merkwürdige Theologen. „Wenn andere sich um die Verbesserung der Verhältnisse bemühen, verweist Christus auf das Jenseits“, räsoniert Markus Somm in seiner Osterandacht, und spricht Jesus damit diesseitiges Engagement ab. Vertröstung aufs Jenseits war schon immer im Sinne der Mächtigen, auch der Kirche. Ob auch Christus sein Amt als abgeschwächtes, bloss unweltliches aufgefasst hat, scheint dagegen fraglich. Jesus soll ohne alle Leidenschaft gewesen sein, dabei hatte er eine der stärksten: Den Zorn! Dass er den Wechslern im Tempel die Tische umwarf passt jedenfalls schlecht ins Bild eines weltflüchtigen Messias. Das Seligpreisen der Friedfertigkeit ist wohl Vorwegnahme jenes Reichs, welches Jesus vorschwebte und welches er nahe glaubte: Eine friedliche Welt, in welcher Menschen nicht ausschliesslich auf eigene Vorteile bedacht sind und nicht das flüchtige Ich, sondern das Begegnende im Vordergrund steht. Für die Herbeiführung des Reichs und die Austreibung der Wechsler steht dagegen das Wort: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“ (Matth., 10, 34). Gewaltverzicht hiess auch niemals Dulden von Unrecht, welches nicht einem selber, sondern anderen zugefügt wird. Die subversive Kraft der Botschaft Jesu liegt wohl genau darin, dass er Rechte für Schwache hier und jetzt eingefordert hat und sich damit gegen jede Vertröstung wandte. Mit der unangenehmen Spannung „zwischen der Realität, die er an sich genoss, und einem Glauben, der diese stille Freude dauernd denunzierte“ (Somm) muss in einem aufgeklärten Christentum nur leben, wer auf Kosten von Schwachen geniesst und sich für seine Vorzugsbehandlung vor Mächtigen bückt. Zu solchen hat Jesus nicht gepredigt. Christentum ist, was wir Menschen heute daraus machen. "Dies septimus nos ipsi erimus" (Augustinus): Ob die Schöpfung eine Zukunft hat hängt nun massgeblich davon ab, ob wir uns selbst um die Verbesserung der Verhältnisse bemühen und nicht auf Hilfe von oben warten.

Montag, 18. April 2011

Für eine Allianz der Vernunft

(webpage von "Rettet Basel", 18. April 2011)
„Eine Protestpartei macht sich selbst überflüssig, wenn man sie mehr in die Verantwortung einbindet.“
Dieses Argument hört man in letzter Zeit oft, und es leuchtet auf den ersten Blick ein. Umgekehrt lehrt uns die Geschichte, dass dieser Schuss auch nach hinten losgehen kann, nämlich dann, wenn es einer Protestpartei nicht mehr auch um die Lösung der tatsächlichen Probleme, sondern nur noch um reine Machtpolitik geht.
Dass letzteres bei der SVP der Fall ist, zeigt nicht erst die Verknüpfung der Energie- mit der Ausländerfrage, sondern etwa bereits der schludrige Deliktskatalog der Ausschaffungsinitiative. Populisten geht es nicht um die Lösung der drängenden gesellschaftlichen Probleme – wozu die „Ausländerfrage“ gehören mag oder nicht –, sondern ausschliesslich um die Stärkung ihrer Machtbasis durch Wählerzuwachs.
Zuwachs erhalten Populisten durch das Stiften konsumierbarer Identität, deren Kehrseite die Aus- und Abgrenzung ist. Die Spaltung der Gesellschaft oder Völkergemeinschaft ist deshalb Programm. Ob sich die Hetze gegen Ausländer, Linke, Lehrer, Scheininvalide, Scheinarme, Scheinbürgerliche, Europa oder staatliche Leistungsträger richtet, ist letztlich völlig zweitrangig.
Wer auf diese Weise politisiert, missbraucht die Demokratie. Demokraten von links bis rechts eint dagegen der Wille, einen Missbrauch der Demokratie nicht zuzulassen. Soll man also einer Partei mehr Verantwortung übertragen, welche in einer unverschämt unverblümten Weise die Demokratie missbraucht und sich in grotesker Verkehrung der Tatsachen noch als deren Hüterin verkauft? Oder gälte es endlich, das Kind beim Namen zu nennen, selbst auf die Gefahr hin, dass dies die Schweiz noch mehr polarisiert?
Gegen Polarisierung ist nichts getan, wenn man sich bei der SVP anbiedert. Man läuft im Gegenteil Gefahr, die eigenen Prinzipien zu verkaufen für einen "Frieden", den andere gar nicht wollen. In der Folge unterliegt man gerade deshalb: Weil man sich Prinzipienlosigkeit vorhalten lassen muss. Das Schicksal der "alten Mitte" bei den jüngsten Kantonsratswahlen scheint diese Vermutung zu belegen.
Gegen Polarisierung wäre aber etwas getan, wenn nun diejenigen Kräfte wieder zusammenarbeiten, die sich unserer rechtsstaatlichen, gewaltengeteilten und auf Grundrechten basierten Demokratie verpflichtet fühlen. Es gälte also eine ganz andere Phalanx zu schliessen als diejenige der "Bürgerlichen", nämlich diejenige der Handlungswilligen von links bis rechts.
Voraussetzung eines solchen Schulterschlusses wäre allerdings, dass die Bürgerlichen endlich damit aufhörten, das Spiel der SVP zu spielen: nämlich staatliche Leistungsträger, Linke, Grüne und überhaupt Menschen, die sich für das Allgemeinwohl einsetzen, andauernd zu beargwöhnen und pauschal als staatsgläubige Leistungsverächter, Sozialisten (mittlerweile ein Schimpfwort) oder Kommunisten zu diffamieren.
Der „Staat“ sind wir alle. Die meisten Rechten und Linken eint, dass sie dem Primat von Politik und Demokratie verpflichtet sind. Dies unterscheidet sie von Extremisten beider Lager: Reiner Wettbewerb, das Recht des Stärkeren, ist ein Steuerungsinstrument, welches in der Wirtschaft seine Berechtigung hat. Freiheit und Demokratie hingegen fussen auf dem gegenteiligen Prinzip, der Solidarität mit den Schwachen und dem Respekt vor Minderheiten. Umgekehrt steht ausser Frage, dass man nicht versuchen soll, eine Gesellschaft gewaltsam zu verändern, alleine schon deshalb, weil man es nicht kann.
Matthias Bertschinger ist Jurist, Gartenbauunternehmer, Mitglied der Grünen, FDP-Gemeinderat in Nunningen, Vorstandsmitglied im Förderkreis Club Helvétique sowie weiteren überparteilichen Organisationen, welche einer weltoffenen und demokratischen Schweiz verpflichtet sind.

Donnerstag, 14. April 2011

Für eine Allianz der Vernunft

(Basellendschaftliche Zeitung vom 16.4.2011)


Ist das CVP-Nein zum SVP-Mitglied Sebastian Frehner als Basler Ständeratskandidat aller Bürgerlichen bedauerlich, weil sich eine Protestpartei selbst überflüssig macht, wenn man sie mehr in die Verantwortung einbindet? Die Argumentation leuchtet zwar auf den ersten Blick ein. Die Geschichte lehrt uns aber, dass dieser Schuss auch hinten hinausgehen kann - nämlich dann, wenn es einer Protestpartei nicht um Sachfragen, sondern nur noch um reine Machtpolitik geht. Dass Letzteres bei der SVP der Fall ist, zeigt nicht erst die Verknüpfung der Energie- mit der Ausländerfrage. Der SVP geht es nicht um die Lösung der drängenden Probleme unserer Gesellschaft, wozu die Ausländerfrage gehören mag oder nicht, sondern ausschliesslich um die Stärkung ihrer Machtbasis durch Wählerzuwachs. Zuwachs erhält die SVP durch das Stiften konsumierbarer Identität, deren Kehrseite die Aus- und Abgrenzung ist. Die Spaltung der Gesellschaft oder Völkergemeinschaft ist deshalb Programm. Ob sich die Hetze gegen Ausländer, Linke, Lehrer, Scheininvalide, Scheinarme, Scheinbürgerliche, Europa oder staatliche Leistungsträger richtet, ist völlig zweitrangig. Wer auf diese Weise politisiert, missbraucht die Demokratie. Demokraten von links bis rechts eint dagegen der Wille, einen Missbrauch der Demokratie nicht zuzulassen. Soll man also einer Partei mehr Verantwortung übertragen, welche in einer unverschämt unverblümten Weise die Demokratie missbraucht und sich in demagogischer Verkehrung der Tatsachen noch als Hüterin derselben verkauft? Oder gälte es endlich, das Kind beim Namen zu nennen, selbst auf die Gefahr hin, dass dies die Schweiz noch mehr polarisiert? Gegen Polarisierung ist nichts getan, wenn man sich bei der SVP anbiedert. Man läuft im Gegenteil Gefahr, die eigenen Prinzipien zu verkaufen für einen «Frieden», den andere gar nicht wollen. In der Folge unterliegt man gerade deshalb, weil man sich Prinzipienlosigkeit vorhalten lassen muss. Das Schicksal der «alten Mitte» bei den jüngsten Kantonsratswahlen scheint diese Vermutung zu belegen. Gegen Polarisierung wäre aber etwas getan, wenn nun diejenigen Kräfte wieder zusammenarbeiten, die sich unserer rechtsstaatlichen, gewaltengeteilten und auf Grundrechten basierten Demokratie verpflichtet fühlen. Es gälte also eine ganz andere Phalanx zu schliessen als die der «Bürgerlichen», nämlich die der Handlungswilligen von links bis rechts. Die enormen Probleme der Gegenwart erfordern endlich eine Allianz der Vernunft. Wenn diese Einsicht die CVP Basel-Stadt bewogen hat, Abstand von der Unterstützung eines Kandidaten zu nehmen, der sich zu den «Werten» der SVP bekennt, beglückwünsche ich sie zu ihrem Entscheid.


Mittwoch, 13. April 2011

Ecopop und Desertec

Es wäre zu wünschen, wir Schweizer würden endlich der Tatsache ins Auge blicken, dass man im Atomzeitalter die immensen Menschheitsprobleme nicht mehr durch Aus- und Abgrenzung lösen kann, sondern nur noch durch intensivere, länderübergreifende Zusammenarbeit. Sicherheit gewinnt man heute nicht mehr mit "altbewährten Mitteln", und je mehr wir auf diese zurückgreifen, desto mehr fehlt uns die Zeit, uns mit den wirklichen Menschheitsproblemen zu befassen, gemeinsam mit anderen Staaten statt in ermüdendem Geplänkel gegen sie. Für eine solche länderübergreifende Zusammenarbeit steht nicht nur die EU, sondern z.B. auch das Projekt 'Desertec', welches sowohl einen Beitrag zur Lösung unserer Energieprobleme als auch zur Linderung der wirtschaftlichen Misere in den Maghreb-Staaten leisten könnte (Stichwort Wirtschaftsflüchtlinge). Wenn Völkerverständigung eine Utopie sein soll, ist es auch eine Utopie, welche wir unserer Entscheidung zugrunde gelegt haben, in unserer Zeit überhaupt noch Kinder zu zeugen!

Desertec

Desertec geht in die richtige Richtung, einmal abgesehen davon, dass dezentraler Energieerzeugung wo immer möglich der Vorzug gegeben werden sollte. Desertec wäre ein Win-Win-Projekt, ein Beitrag nicht nur zur Lösung unserer Energieprobleme, sondern auch ein Beitrag zur Lösung der wirtschaftlichen Misere in denjenigen Ländern, welche Europa diesen Strom liefern würden (Stichwort Wirtschaftsflüchtlinge). Desertec steht für ein Projekt, welches insoweit die richtige Richtung aufzeigt: Im Atomzeitalter kann man die immensen Probleme der Menschheit nur noch gemeinsam lösen. Sicherheit gewinnt man im Atomzeitalter nicht mehr durch nationalistische Abschottung, sondern nur noch durch intensivere und länderübergreifende Zusammenarbeit.

Dienstag, 12. April 2011

Liberale Energiepolitik

Verbote und Einschränkungen sind nicht einfach das Gegenteil von liberal. Wenn der Staat Rahmenbedingungen setzt, "diktiert" er gerade nicht einen "richtigen" Weg, sondern schafft im Gegenteil Raum für Innovationen seiner Bürger, Raum für Lösungen, die eine Gesellschaft zukunftsfähig machen. Zu einer liberalen Enrgiepolitik gehörte daher der Mut, das Angebot nicht erneuerbarer Energien sukzessive einzuschränken und dem Markt zu überlassen, wie er darauf reagiert. Das leidige Ausspielen von Freiheit gegen den Staat sollte uns skeptisch machen: cui bono?

Konrad Hummlers reflexartige Skepsis

"Das ist es, was wir von unseren Redaktionen verlangen müssen: grundsätzliche Skepsis gegenüber allen Äusserungen von Macht", apelliert Hummler an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (NZZ, 12.4.2001 S. 23). Doch Macht übt nicht nur der Staat aus. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der NZZ wäre deshalb zu wünschen, sie begegneten Macht auch dort mit der gebührenden "reflexartigen Skepsis", wo diese nicht vom Staat, sondern von natürlichen oder juristischen Personen ausgeht: Geld ist auch Macht!
Der demokratische Staat - und nicht der Markt, das Recht des Stärkeren - schützt die Freiheit von uns allen vor übermässigen Machtansprüchen weniger. Der "Freisinn" überlege sich deshalb gut, ob er weiterhin in das populistische Lied derer einstimmen soll, die den demokratischen Staat durch Diffamierung unterhöhlen. Rundumschläge gegen den Staat sind nicht freisinnig, sondern berechnend populistisch, im besten Fall ideologisch.

Samstag, 9. April 2011

"Sozialneid", Kapitalismuskritik und Linksradikalismus

Wenn man sich dagegen wehrt, dass eine Gesellschaft gewissen Menschen das Recht einräumt, ihr Leben auf Kosten anderer zu bestreiten - ohne je selbst einen Finger zu krümmen und Leistung erbringen zu müssen -, ist das eine Kapitalismuskritik, die weder mit Sozialneid noch mit Linksradikalismus etwas zu tun hat. Kapitalismuskritiker pauschal als Leistungsverächter und Extremisten zu bezeichnen ist Populismus in Reinkultur.