Donnerstag, 29. Mai 2014

„Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, braucht die Schweiz eine gerechte Weltordnung.“


TagesWoche, 30. Mai 2014

Nach dem Gripen-Entscheid von vorletztem Wochenende stellt sich die Frage nach der Sicherheitsstrategie der Schweiz: Gemeinsame Sicherheitspolitik und proaktives Handeln oder Rückzug ins Chalet-Denken? Am kommenden Sonntag wird alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in Basel ihr Buch „Die Schweiz, die ich uns wünsche“ vorstellen. Eine Diskussion über die Handlungsmaximen einer aktiven Aussen-, Neutralitäts- und Sicherheitspolitik, welche Micheline Calmy-Rey in ihrem Buch skizziert, ist aber vor allem nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative nötiger denn je.

„Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, braucht die Schweiz eine gerechte Weltordnung. Es gilt darum nicht nur, unser bilaterales Verhältnis mit anderen zu pflegen, sondern vor allem auch Einfluss in den multilateralen Gremien zu gewinnen, wo eine solche Ordnung entsteht.“ Einfluss gewinnt man, indem man mitmacht und sich beteiligt.

Micheline Calmy-Rey fordert eine aktive Neutralitätspolitik, denn „ohne die aktive Beteiligung von Ländern wie der Schweiz wäre die Hegemonie der grossen Länder noch ausgeprägter.“ Eine aktive Aussen-, Neutralitäts- und Sicherheitspolitik ist somit eine Frage der Souveränität, die vom Grad der Beteiligung, vom Grad der Mitsprache in einer globalisierten Welt abhängt. Denen die meinen, die beste Aussenpolitik wäre gar keine, hält Calmy-Rey den Spiegel vor:

„Die schweizerische Neutralität ist kein Hindernis für die internationale Zusammenarbeit. Sie ist kein Hindernis für die Beteiligung der Schweiz an einem kollektiven Sicherheitssystem. Sie ist kein Hindernis für eine aktive Politik der Friedensförderung. Und wenn man die Position der Schweiz unvoreingenommen betrachtet, muss man leider feststellen, dass sie de facto auch kein Hindernis ist für die Lieferung von Militärmaterial in Konfliktgebiete oder in Länder, die die Bestimmungen des Völkerrechts systematisch verletzen […].“

„Ich bin überzeugt, dass es unabdingbar ist, nationale ökonomische Notwendigkeiten und globale Ziele miteinander in Übereinstimmung zu bringen: Man kann nicht auf Diplomatie setzen und Waffen an Kriegsparteien verkaufen, man kann sich nicht als Anwalt der Menschlichkeit verstehen, sich rechtsstaatlicher Prinzipien rühmen und die ganze Welt belehren und gleichzeitig als Drehscheibe zur Umgehung der Normen und Regeln der anderen dienen.“

Das Völkerrecht bildet den Rahmen, der kleinen Ländern die Mitsprache sichert und ihre Souveränität garantiert. „Die Schweiz muss [daher] auf die Autorität des Völkerrechts pochen, um ihre Interessen und Unabhängigkeit zu schützen“. „Die Schweiz hat immer auf den Vorrang des Rechts gesetzt. Wenn sie ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sie in aller Freiheit eingegangen ist, nicht mehr wahrnehmen will, verliert sie ihr Ansehen und schwächt die Werte, die sie bis anhin verteidigte.“

Sicherheitspolitik und ein Einstehen für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien heute untrennbar miteinander verbunden: „[…] wir sprechen hier von einer von humanistischen Prinzipien durchdrungenen Politik und einer eigentlichen Ethik politischen Handelns. In einer solchen Optik geht die Aussen- und Sicherheitspolitik über die Verteidigung und Förderung der nationalen Interessen hinaus.“

„Die Sicherheit ist ein kollektives Gut, für die die ganze internationale Gemeinschaft verantwortlich ist. Es ist schon lange so, dass kein Staat sich mehr aus der Welt zurückziehen und sich in einer Splendid Isolation einrichten kann.“

„Können“ ist dabei relativ zu verstehen, denn wir können uns neuen Realitäten natürlich immer auch verschliessen: „Natürlich dürfen wir uns frei entscheiden, uns hinter unsere Berge zurückzuziehen und uns aufzuführen, wie wir wollen: Minarette verbieten und den automatischen Informationsaustausch ablehnen, doch sollten wir uns der internationalen Konsequenzen solcher Entscheidungen bewusst sein“, schliesst sie ihr Buch.

Micheline Calmy-Rey spricht sich dafür aus, über eine EU-Mitgliedschaft nachzudenken, um unsere Souveränität zu sichern und zu mehren. Diese beiden Ziele scheinen auf den ersten Blick unvereinbar, weil Rechtspopulisten seit Jahren repetieren, Souveränität und EU-Mitgliedschaft verhielten sich zueinander wie Feuer und Wasser. Die alt Bundespräsidentin und Aussenministerin stellt klar, dass sich das Mass der Souveränität an der Mitsprachemöglichkeit eines Landes auf supranationaler Ebene bemisst, am Grad der Einbindung in eine zunehmend interdependente Welt, nicht am Grad der Loslösung und Isolation (beschönigend: "Unabhängigkeit").

Micheline Calmy-Rey referiert auf Einladung der REGIO BASILIENSIS und der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS) Sektion beider Basel am Sonntag um 18.30 Uhr im Merian-Saal des Hotel Merian, Rheingasse 2. Die anschliessende Diskussion moderiert der Chefredaktor der „bz Basel“, Matthias Zehnder. Für Diskussionsstoff und einen Apéro im Anschluss an die Veranstaltung ist gesorgt.  Eintritt und Gedanken sind frei.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Woran sich der Freiheitsgrad einer Gesellschaft bemisst



bz Nordwestschweiz, 22. Mai 2014

Ulrich Schlüer, Postfachminister des Komitees gegen einen schleichenden EU-Beitritt, „vertraut lieber dem schwulenfeindlichen Russland Putins als der EU, dem Friedensprojekt des aufgeklärten Europas“, schreibt Werner de Schepper. Rätselhaft ist, dass sich selbst junge Menschen für diese bigotte und autoritätsgläubige Truppe von Gotteskriegern begeistern können, die zu Blochers letztem Gefecht blasen für das, was man dem Volk als Unabhängigkeit und Freiheit verkauft. Die Zeiten ändern sich, Fakt aber bleibt: Am Umgang mit Homosexualität bemisst sich der Freiheitsgrad einer Gesellschaft.

Mittwoch, 14. Mai 2014

Mehr Mitbestimmung für die Schweiz!

Nordwestschweiz, 24. Mai 2014 (eine gekürzte Fassung)


Unsere Nachbarn wählen am 25. Mai das Europaparlament. Wir Schweizerinnen und Schweizer sind nicht wahlberechtigt, obwohl uns die Europapolitik der nächsten Jahre direkt betrifft. Ein Grossteil des Rechts entsteht heute nicht mehr im nationalen Alleingang, sondern in Zusammenarbeit mit anderen Staaten. Solches gemeinsames Recht ist die Antwort auf gemeinsame Probleme in einer globalisierten Welt, die nicht nur die jeweilige Nation betreffen – man denke etwa an die grenzüberschreitenden Umweltprobleme – und deshalb vernünftigerweise (auch) Gegenstand der Politik auf einer supranationalen oder der globalen Ebene sind (Prinzip der Subsidiarität). Als EU-Recht („acquis communautaire“) wird es auch von der Schweiz übernommen, die nicht EU-Mitglied ist („autonomer Nachvollzug“).
Einem undifferenzierten Schlechtreden von Institutionen wie der EU ist zu verdanken, dass die Schweiz nicht EU-Mitglied ist und freiwillig auf demokratische Mitbestimmungsrechte auf europäischer Ebene verzichtet. Wir lehnen die EU-Mitgliedschaft auch deshalb ab, weil wir in Brüssel „nicht viel zu sagen“ hätten. Die Schweiz hätte ca. 18 Abgeordnete zu entsenden, eine Stimme im Rat und Anspruch auf eine Kommissarin oder einen Kommissar. Das entspricht etwa der Stimmenstärke Neuenburgs in Bundesbern, und keinem Neuenburger käme in den Sinn zu sagen, er hätte in Bern nicht viel zu sagen. Wir lehnen eine EU-Mitgliedschaft aber vor allem ab, um „souverän“ zu bleiben; doch die absolute Souveränität, die uns vorschwebt, wenn wir von Souveränität reden, ist eine Illusion, die das Fehlen einer real existierenden, „geteilten“ Souveränität verdeckt, die wir haben könnten: das Mitbestimmungsrecht auf europäischer Ebene. Um also den Mythos einer absoluten Unabhängigkeit zu pflegen, die es nicht gibt, verzichtet „die beste Demokratie der Welt“ auf die demokratische Mitbestimmung auf europäischer Ebene, die es wirklich gibt – wenn auch für uns Schweizerinnen und Schweizer erst als Möglichkeit. Diesem Bild der Schweiz als Insel dient auch noch die beschönigende Formulierung „autonomer Nachvollzug“, die eine halluzinierte Unabhängigkeit  vor- und über das Fehlen realer Mitbestimmungsmöglichkeiten hinwegtäuscht. Ein solcher Umgang mit der Realität ist einer Demokratie nicht würdig.
Die Neue Europäische Bewegung Schweiz (Nebs) setzt sich für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ein, weil sie mehr Mitbestimmungsrechte für die Bürger und Bürgerinnen dieses Landes fordert. Die Pro-Europäer in der Schweiz fordern also mehr Demokratie und nicht weniger, wie Nationalisten behaupten, die uns die Bedienung des Ressentiments gerne als Demokratie verkaufen. Auch kann man die Strukturen einer Gemeinschaft nur dann mitgestalten, mitverändern oder mitverbessern, wenn man sich als Teil dieser Gemeinschaft versteht und Teil von ihr wird. Darin unterscheidet sich Europapolitik nicht von der Politik auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene: Nur wer Teil der Gemeinschaft ist, kann diese auch mitgestalten, und nur wer mitgestalten kann, ist wirklich souverän. Genau so wie nur der frei ist, der seine Freiheit gebraucht, wie es in der Präambel unserer Bundesverfassung heisst.