Freitag, 10. Dezember 2010

Redlichkeit gegen sich selbst (BaZ vom 22.12.10, Wochenblatt vom 23.12.10, ...)

In unsicheren Zeiten dringen Existenzängste an die Oberfläche und müssen irgendwo festgemacht werden: Etwa an Detlef S., Ivan S., Faruk B. oder Ismir K.
Die Weihnachtszeit bietet Gelegenheit zur Besinnung. Man könnte sich fragen, ob sich unsere Angst mit diesen Herren ausschaffen lässt oder ob sie bliebe.
Menschen wissen um ihre Sterblichkeit, sie wissen um die Möglichkeit des Eintritts von Schicksalsschlägen, fürchten sich vor Liebesentzug, mangelnder Anerkennung, Leiden und Not. Menschen wissen, wie machtlos sie letztlich sind. Dieses Wissen erzeugt Angst, die man bekämpfen kann, indem man andere zu Sündenböcken macht. Die Illusion, seinen Ängsten nicht ausgeliefert zu sein, wirkt befreiend. Deshalb sind Menschen empfänglich für Feindbilder. Besiegen lassen sich aber höchstens die Sündenböcke. Existentielle Ängste beschleichen uns wieder und erinnern uns daran, dass wir uns wichtiger nehmen, als wir sind.
Man muss weder Gott noch die Moral bemühen, um sich anlässlich des Fests der Liebe zu fragen, ob man sich selbst weniger wichtig nehmen sollte, dafür andere umso mehr. Es genügt festzustellen, dass man sich selbst betrügt, wenn man vor dem Wissen um sein Ausgeliefertsein flieht und dafür andere Menschen oder Gruppen klein machen muss.
Laut dem Philosophen Ernst Tugendhat gibt es zwei Weisen, wie der Mensch sich zu sich selbst verhalten kann: Eine egozentrische, in welcher der Mensch sein „ich will“ wichtig nimmt, und eine mystische, in welcher der Mensch von seinem „ich will“ und seinem „ich will nicht, wie das Dasein ist“ zurücktritt. Das mystische Selbstverhältnis setzt den Menschen dem Dasein, so wie es ist, und der Bestimmung des Menschen, Verantwortung für diese Welt zu übernehmen, radikal aus.
Wo wir uns selbst weniger wichtig nehmen, kann es gelingen, die Begrenztheit eigener Handlungsmöglichkeit anzunehmen, ohne uns aus der Verantwortung zu stehlen mit der Ausrede, die Welt nicht verändern zu können. An Weihnachten feiern wir den Geburtstag eines Mystikers, der die Dinge, die sich nicht ändern lassen, hinnahm, sich in Angelegenheiten, die sich ändern lassen, einmischte und die Weisheit besass, das eine vom anderen zu unterscheiden. An Selbstgerechten, die zweierlei Mass anlegen, und an Feiglingen, die gegen unten treten, um vor sich selbst zu fliehen, entlud sich sein Zorn.Zum Mystiker kann man nicht werden wollen, zeichnet diesen doch aus, dass er von seinem „ich will“ zurücktritt. Doch man kann Redlichkeit üben gegen sich selbst, sich selbst fragwürdig werden in seinem Urteilen – anderen und sich selbst zuliebe. Vielleicht verbirgt sich in dieser Demut jene Freiheit, die wir in Illusionen suchen, aber letztlich nie finden.

Literatur:
Alice Holzhey-Kunz, Daseinsanalyse
Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik

Donnerstag, 18. November 2010

Sündenböcke statt Problemlösungen (BaZ 12.11.10, Basellandschaftliche Zeitung 19.11.10, Wochenblatt vom 18.11.2010)

Für Propaganda gegen die Steuerinitiative und für die Ausschaffungsinitiative wenden gewisse Wirtschaftskreise Millionenbeträge auf. Das ist kein Zufall, denn die beiden Initiativen stehen in einem engen Zusammenhang.
Seit rund 25 Jahren öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. In der Schweiz besitzen drei Prozent der Bevölkerung mittlerweile gleich viel wie die restlichen 97 Prozent. Während die Steuerinitiative dieses wachsende Ungleichgewicht thematisiert, lenkt die Ausschaffungsinitiative von diesem Missstand ab.
Charakteristisch für die heutige Zeit ist, wie hemmungslos sich gewisse Kreise zur Besitzstandwahrung zweier Mittel bedienen. Eines davon ist die Drohung.
Wer höhere Mindestlöhne fordert, dem wird mit Arbeitsplatzabbau gedroht. Wer sich für die Erbschaftssteuer stark macht, dem wird mit Kapitalflucht gedroht. Der schrankenlose Wettbewerb wird nicht nur zur Bedingung für das Funktionieren der Wirtschaft erklärt, sondern auch noch für gesund befunden. Aber wer den schrankenlosen Wettbewerb zum Sachzwang erklärt, spricht dem Volk Mitbestimmungsmöglichkeit ab, und nicht, wer mit Verweis auf das Willkürverbot und andere Grundnormen daran erinnert, dass in einer Demokratie eine Mehrheit nicht alles darf.
Das zweite, perfidere Mittel zur Aufrechterhaltung aus dem Lot geratener Besitz- und Machtverhältnisse ist die Ablenkung. Um von einem gesellschaftlichen Missstand abzulenken, kann man andere Gesellschaftsgruppen oder deren Vertreter zu den Hauptverursachern von Problemen erklären und den Missmut über gefühlte Missstände auf diese Gruppen lenken. Dafür bedient man sich mit Vorteil schwacher Glieder einer Gemeinschaft, weil die sich weniger wehren können. Doch wenn Mächtige mit Demagogie von denjenigen Problemen ablenken, deren Urheber sie selbst sind, wird auch die Mehrheit der Mittäter und Mitläufer zum Opfer ihrer eigenen, hasserfüllten Politik: In den USA läuft das Volk derzeit Sturm gegen seine eigene Krankenvorsorge, aufgehetzt von Wenigen, die alles daran setzen, um nicht einen angemessen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten zu müssen.
Nicht nur Arbeitslose, Alleinerziehende oder Arbeiterfamilien, sondern der ganze Mittelstand gehört längst zu den Verlierern eines schrankenlosen Wettbewerbs im Interesse einer mächtigen Minderheit. Das ebenso simple wie perverse Rezept des Populismus lautet seit jeher: Halte Verlierer in gegenseitiger Konkurrenz, hetze Arme gegen noch Ärmere, dann bringst du Verlierer nicht gegen dich auf, sondern gewinnst im Gegenteil auch noch willige Helfer aus ihren Reihen.Das wirkliche Problem unserer Gesellschaft heisst nicht Ausländerkriminalität oder Überfremdung, sondern Entsolidarisierung und Populismus. Die Schweiz mag eine vielversprechende Zukunft haben, sofern sie sich wieder ernsthaft um sozialen Ausgleich bemüht und den Verlockungen derjenigen widersteht, die uns Sündenböcke statt Problemlösungen anbieten. Im Kampf gegen Rechtspopulismus bedürfen menschenrechtspolitische Organisationen substantieller Unterstützung!

Zur Ausschaffungsinitiative (Basellandschaftliche Zeitung 30.10.10, Wochenblatt 4. November 2010)

Vielleicht führt der 28. November den Mitteparteien endlich vor Augen, wie wichtig die Frage der Parteienfinanzierung für eine Demokratie ist: Zur Ausschaffungsinitiative sieht man fast nur Propaganda der Befürworter (Ivan und die Schwarzen Schafe). Aufklärung hat es ohnehin schwer gegen eine Politik, die mit Vereinfachungen arbeitet und mit Ängsten spielt. Für eine Demokratie, in welcher die ungleiche Verteilung von Mitteln für Information und Propaganda dazu führt, dass Aufklärungsarbeit überhaupt keine Chance mehr hat, mag man sich gar nicht mehr einsetzen.
Dieses Gefühl lähmt zur Zeit wohl das Engagement vieler Menschen. Doch man sollte auch einer ausweglosen Situation stets sein Trotzdem entgegensetzen und in einer scheinbar verlorenen Schlacht bereits für die kommende kämpfen. Menschen aufzuzeigen, wo sie Gefahr laufen, instrumentalisiert zu werden, ist ein immerwährender Kampf, und für diesen brauchen Menschenrechtsorganisationen dringend Unterstützung.
Wenn man die Ursache von Gewalt bekämpfen möchte, ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass Kinder nicht Gewalt oder Diskriminierung ausgesetzt werden. Gewalt steht in engem Zusammenhang mit sozialer Ausgrenzung. Jugendliche laufen vor allem dann Gefahr, gewalttätig zu werden, wenn sie selbst Opfer von Gewalt oder Diskriminierung geworden sind. Ausländerfeindlichkeit trifft auch und gerade die Kinder von Ausländern. Die Ausschaffungsinitiative schürt Ressentiments gegen Ausländer und erzeugt damit gerade, was sie zu bekämpfen vorgibt: Ausländerkriminalität. Wenn man der Ansicht ist, es bedürfe härterer Massnahmen gegen die Kriminalität, muss man das Strafrecht verschärfen. Wenn man Integration fördern und Verantwortung einfordern will, darf man nicht ausgrenzen, sondern muss einbinden. Die Gewährung des Stimm- und Wahlrechts für niedergelassene Ausländer wäre eine produktive Massnahme gegen Ausländerkriminalität. Ausländer unter Generalverdacht zu stellen oder gar gegen sie zu hetzen hingegen nicht.
Demokratie ist eine voraussetzungsreiche Kultur des Miteinanders. Wird sie zum Deckmäntelchen der Arroganz einer Elite, droht „Stuttgart 21“. Wird sie zum Vorwand für die Vormachtstellung einer Mehrheit, deren Anführer und Financiers uns weismachen wollen, in einer Demokratie sei der Mehrheit alles erlaubt, droht Schlimmeres:
«Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch!» (Gottfried Keller).
Heute müsste sich der Patriot Gottfried Keller wohl den Vorwurf gefallen lassen, zur unpatriotischen Elite der sogenannten „Intellektuellen“ zu gehören, die unsere Direkte Demokratie aushebeln will. Es ist leider davon auszugehen, dass die Ausschaffungsinitiative angenommen wird. Deshalb JA zum Gegenvorschlag und beim Stichentscheid das Kreuz beim Gegenvorschlag, aber NEIN zur Initiative!