Donnerstag, 18. November 2010

Zur Ausschaffungsinitiative (Basellandschaftliche Zeitung 30.10.10, Wochenblatt 4. November 2010)

Vielleicht führt der 28. November den Mitteparteien endlich vor Augen, wie wichtig die Frage der Parteienfinanzierung für eine Demokratie ist: Zur Ausschaffungsinitiative sieht man fast nur Propaganda der Befürworter (Ivan und die Schwarzen Schafe). Aufklärung hat es ohnehin schwer gegen eine Politik, die mit Vereinfachungen arbeitet und mit Ängsten spielt. Für eine Demokratie, in welcher die ungleiche Verteilung von Mitteln für Information und Propaganda dazu führt, dass Aufklärungsarbeit überhaupt keine Chance mehr hat, mag man sich gar nicht mehr einsetzen.
Dieses Gefühl lähmt zur Zeit wohl das Engagement vieler Menschen. Doch man sollte auch einer ausweglosen Situation stets sein Trotzdem entgegensetzen und in einer scheinbar verlorenen Schlacht bereits für die kommende kämpfen. Menschen aufzuzeigen, wo sie Gefahr laufen, instrumentalisiert zu werden, ist ein immerwährender Kampf, und für diesen brauchen Menschenrechtsorganisationen dringend Unterstützung.
Wenn man die Ursache von Gewalt bekämpfen möchte, ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass Kinder nicht Gewalt oder Diskriminierung ausgesetzt werden. Gewalt steht in engem Zusammenhang mit sozialer Ausgrenzung. Jugendliche laufen vor allem dann Gefahr, gewalttätig zu werden, wenn sie selbst Opfer von Gewalt oder Diskriminierung geworden sind. Ausländerfeindlichkeit trifft auch und gerade die Kinder von Ausländern. Die Ausschaffungsinitiative schürt Ressentiments gegen Ausländer und erzeugt damit gerade, was sie zu bekämpfen vorgibt: Ausländerkriminalität. Wenn man der Ansicht ist, es bedürfe härterer Massnahmen gegen die Kriminalität, muss man das Strafrecht verschärfen. Wenn man Integration fördern und Verantwortung einfordern will, darf man nicht ausgrenzen, sondern muss einbinden. Die Gewährung des Stimm- und Wahlrechts für niedergelassene Ausländer wäre eine produktive Massnahme gegen Ausländerkriminalität. Ausländer unter Generalverdacht zu stellen oder gar gegen sie zu hetzen hingegen nicht.
Demokratie ist eine voraussetzungsreiche Kultur des Miteinanders. Wird sie zum Deckmäntelchen der Arroganz einer Elite, droht „Stuttgart 21“. Wird sie zum Vorwand für die Vormachtstellung einer Mehrheit, deren Anführer und Financiers uns weismachen wollen, in einer Demokratie sei der Mehrheit alles erlaubt, droht Schlimmeres:
«Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch!» (Gottfried Keller).
Heute müsste sich der Patriot Gottfried Keller wohl den Vorwurf gefallen lassen, zur unpatriotischen Elite der sogenannten „Intellektuellen“ zu gehören, die unsere Direkte Demokratie aushebeln will. Es ist leider davon auszugehen, dass die Ausschaffungsinitiative angenommen wird. Deshalb JA zum Gegenvorschlag und beim Stichentscheid das Kreuz beim Gegenvorschlag, aber NEIN zur Initiative!

4 Kommentare:

  1. Liebe Frau Hale
    »Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich große Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch.«
    Gottfried „Keller reagiert in diesem Zitat prophetisch drohend gegen jeden Versuch, den Staat für das große Geschäft zu instrumentalisieren“ und warnt vor einer „Republik, die ihre Substanz und Glaubwürdigkeit durch grenzenlose Profitsucht verspielt hat“ (Quelle: Adolf Muschg in „Die Zeit“ Nr. 39, 2009). Wer den Liberalismus beim Wort nimmt, für welchen der Staat den Sinn hat, die Bürger gegen seine eigene Willkür zu schützen (d.h. AUCH gegen die Willkür einer von Profit- und Machtsüchtigen aufgehetzten Mehrheit), wird heute von Rechtspopulisten als Gegner der Demokratie diffamiert und in die linke Ecke gestellt.
    Sie haben in Ihrem Brief noch weitere Fragen aufgeworfen und bemängeln – nicht zu unrecht! – meinen Schreibstil. Ich freue mich auf Reaktionen zu meinen Äusserungen und stelle mich unter www.matthias-bertschinger.blogspot.com gerne der weiteren Diskussion.
    Freundliche Grüsse
    M. Bertschinger

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  2. Lieber Herr Bertschinger
    Indem Sie Keller ueber Muschg zitieren vereinfachen Sie das Verstaendnis Ihrer Texte nicht. Wobei m.E. auch Muschg das Zitat in seinem Essay zum Bettag 2009 als Weissagung eines damaligen Intelligenziavertreters darstellt.
    So als Text genommen und in Muschg’s Aufsatz bzw. Ihren Leserbrief gestellt, verfehlt es seine diktatische Wirkung nicht und besticht – mit Referenz auf Keller - durch die Prophezeiung.
    Liest man den Text jedoch im Zusammenhang der Novelle muss man sehr wohl relativieren, nicht nur wurden die Worte einer Figur in den Mund gelegt sondern, und hier zitiere ich aus Karl Grobs „Demokratische Theorie und literarische Politik“: Der Dichter erscheint vielmehr als derjenige, der im Rahmen einer organizistischen Geschichtstheorie den historischen Entwicklungsprozeß in seinen Bildern vorwegnimmt, nur daß diese Konzeption einer organisch sich vollziehenden Geschichte dadurch wieder in Frage gestellt wird, daß das Kunstwerk als realutopisches Bild des Gewachsenen nun seinerseits das Wachstum in die dann als intentional erscheinende Richtung des Geschichtsverlaufes lenken soll. Diese Lenkung verdankt
    sich – so Keller – dem Irrtum des Volkes, das sich beim Lesen des
    Textes einbildet, schon so zu sein, wie es dargestellt ist.
    Es ist somit gerade das literarische Bild, das es ermöglicht, den sich intentional vollziehenden Prozeß kausal zu reinterpretieren und so die Geschichte ex post zu deuten. Diese Deutung der Geschichte macht nun aber die Geschichtsschreibung selbst zu einer Fiktion und verdeutlicht auch die Verwandtschaft, die zwischen großer Epik und Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert besonders hervorgetreten ist. Erst wenn auch der Prozeß der literarischen Produktion selbst kausal verstanden werden soll, werden die Schwierigkeiten deutlich. Wir müßten nämlich, um die Entfaltung des Keimes im Werke zu legitimieren, dem Autor gerade jenes intentionale und produktive Sehen absprechen, das den utopischen Gehalt begründet und Geschichte nach vorne erst denkbar macht. Dabei versteht sich von selbst, daß der Dichter als ein Geschichtsschreiber der Zukunft sich der Falsifikation seiner Geschichte aussetzt,
    wenn er, wie Keller, in Anspruch nimmt, das Wesentliche anders als seine Zeitgenossen unmittelbar zu erkennen. Deswegen erscheint auch Kellers spätere Wendung gegen das Fähnlein als überaus legitim.

    Ich freue mich also nach wie vor in diesem Zusammenhang Ihre Interpretation des nachfolgenden Satzes zu hoeren: Heute muesste sich der Patriot Gottfried Keller wohl den Vorwurf gefallen lassen, zur unpatriotischen Elite der sogenannten „Intellektuellen’ zu gehoeren, die unsere Direkte Demokratie aushebeln will.
    Beste Gruesse
    Ursula Hale

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  3. Liebe Frau Hale
    Ich bin kein Keller-Kenner. Ist man kein Kenner, kann man versuchen, Aussagen aus sich selbst heraus zu verstehen. Oder man kann auf Interpreten zurückgreifen. Ich habe Muschg ins Spiel gebracht, sie nun Grob. Aber liegt Muschg mit seiner Interpretation so daneben? (Immerhin scheint er Keller-Kenner zu sein, denn Grob bemerkt: „Das brillante Buch von Adolf Muschg, Gottfried Keller (München: Kindler, 1977) verdeutlicht vor allem im Kapitel ‚Schuldigkeit: Der Staat des Schreibers‘ die Schwierigkeiten der Kellerschen politischen Anschauungen. Dem Buche Muschgs verdanke ich, obwohl ich die Verbindung von Person und Werk gerade nicht suche, wichtige Einsichten.“)
    Ich weiss es nicht und kann Keller auch nicht mehr selbst fragen, was er mit diesem Zitat sagen wollte. Also muss ich es interpretieren, wenn ich es heranziehe. Ich interpretiere es im Sinne Muschgs: Gottfried „Keller reagiert in diesem Zitat prophetisch drohend gegen jeden Versuch, den Staat für das große Geschäft zu instrumentalisieren“.
    Prophetie ist Vorwegnahme eines möglichen Verlaufs der Geschichte, um den realen geschichtlichen Verlauf zu gestalten. Glückt Prophetie, tritt das Prophezeite gerade ein, weil es prophezeit wird (sich selbst erfüllende Prophezeiung) oder tritt nicht ein, wenn Prophezeiung vor einer Entwicklung warnt (sich selbst verhindernde Prophezeiung). Prophetie ist nicht Vorhersage eines geschichtlichen Verlaufs, sondern ein Mittel, diesen zu gestalten – letztlich also Politik.
    Politiker, Historiker, Literaten usw., die heute - wie damals Keller? - eine düstere Zukunft prophezeien, wenn man Mächtigen gestattet, mit dem Schüren von Ressentiments und mit enormem Mitteleinsatz Massen zu instrumentalisieren und Menschen für reine Machtmehrung zu missbrauchen, werden heute als Linke, Intellektuelle, Demokratiegegner etc. diffamiert.
    Ich nehme an, der Zusammenhang zwischen Kellers Zitat und meinem letzten Satz ist nun klar. Ich habe Kellers Zitat herangezogen, bemüht meinetwegen, um über Politik zu reden. Reden wir über Politik!
    Freundliche Grüsse
    M. Bertschinger

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  4. PS. Geben Sie mir Ihre e-mail-Adresse bekannt, ich schicke Ihnen das PdF eines lesenswerten Interviews mit Peter Bichsel zur Ausschaffungsinitiative. Den könnte man wenigstens noch fragen, wie er was gemeint hat;-)

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