Samstag, 17. November 2012

Zum SVP-Extrablatt



Wir hatten wieder einmal das zweifelhafte Vergnügen, von der SVP ein Propaganda-Extrablatt zu erhalten. Es genügt ein Blick auf dieses Pamphlet, um das perfide Muster hinter der Politik der SVP zu erkennen: Mit Heimat und den Ausländern oder der EU werden systematisch und schamlos Ersatzbilder für Gott und alles Böse aufgebaut. Man kann Menschen für seine Interessen instrumentalisieren, indem man ihnen solche Projektionsflächen bietet. Wir kennen dieses Muster aus der Geschichte, deshalb ist Geschichtsunterricht so wichtig. Mit der Idee von Demokratie hat diese Art des Politisierens nichts zu tun, und auch hierin liegt ein Demokratiedefizit: Im Gegensatz zu Herrn Blocher verfügen andere Bürgerinnen und Bürger nicht über die Mittel, um ihrer Stimme so viel Gewicht zu verleihen. Wer über Geld verfügt, dessen Stimme zählt mehr. Aber Parteienfinanzierung sei ja Privatangelegenheit, wird uns seitens der Bürgerlichen weisgemacht. Die SVP verbittet sich da jede Einmischung, namentlich von aussen („Frechheit“!), etwa seitens der Group of States against corruption (GRECO), die uns auf die Schwachstellen unserer Demokratie aufmerksam macht. Doch die „beste Demokratie der Welt“ verdient endlich Regeln, die Transparenz und eine ausgewogene Finanzierung der politischen Akteure sicherstellen. In anderen fortschrittlichen Demokratien ist dies längstens der Fall!

Mittwoch, 17. Oktober 2012

Worauf es ankommt

Die Basellandschaftliche Zeitung berichtet in ihrer Ausgabe vom 17. Oktober (S. 5) von sog. „heimatlosen“ Schweizern, das heisst von „Fällen, in denen sich Personen im bisherigen Kanton abmeldeten, in einem anderen in ein Heim zogen, sich dort aber nicht anmelden konnten. Der ursprüngliche Kanton wollte die Person dann mangels Wohnadresse auch nicht wieder aufnehmen“. Da ist dem Amtsschimmel geglückt, worauf es dem Standortwettbewerb ankommt: Menschen loszuwerden, die nur noch als Kostenfaktoren wahrgenommen werden. Gemeinden vergraulen Sozialhilfebezüger teils bewusst oder sorgen dafür, dass keine neuen zuziehen. Diese sollen ihre Schriften gefälligst anderswo deponieren und anderen auf der Tasche liegen.
„Der Ausländer“ ist Sinnbild eines solchen Denkens, das den Menschen nur noch unter dem Aspekt seiner Verwertbarkeit sieht. Er ist der Mensch, den man abschieben, also notfalls wieder loswerden kann, wenn er nichts mehr "nützt": reine Manövriermasse der Ökonomie. Wo Linke in guter Absicht den Nutzen solcher Menschen zweiter Klasse für unsere Wirtschaft hervorkehren, machen sie sich selbst zu Fürsprechern einer ökonomistischen Logik, die nicht nur menschenunwürdig ist, sondern auch zu keinem Ziel führt, weil sie sich im Gegeneinander erschöpft und aus diesem Grund obendrein noch nationalistisch ist: einer Logik, die den eigenen Standort zum Prinzip erklärt und dabei das Prinzip Mensch vergisst.
Anstatt dass man sich endlich zusammensetzte und gemeinsam die gemeinsamen Probleme angeht – und zwar transkommunal, transkantonal und vor allem transnational – dringt aus den Amtsstuben ein leises Wehklagen: „Ach, wäre doch auch dieser oder jener Bürger" – nein: kein Sans Papiers, sondern: – "nicht hiesigen ‚papiers‘". Dabei wäre mehr Solidarität und Kooperation gefragt, und das ist nicht einfach eine linke Forderung und auch nicht in erster Linie eine moralische Frage, sondern eine des Verstands.
Ein Weiteres kommt hinzu: Was ein solches vordergründiges, egoistisches und am kurzfristigen Interesse orientiertes Denken wirklich gefährlich macht, ist, dass es in seinem Denken den Menschen zweiter Klasse, den Minderwertigen und Schwachen, erst erzeugt, den ein ganz anderes, „hintergründiges" Denken und Verhalten als Projektionsfläche braucht, um sich nicht selbst hassen zu müssen. Die Rede ist von einem Denken und Verhalten, das am Schwachen und „Minderwertigen“ ein Schwachsein und eine Hinfälligkeit verachtet und hasst, die es – letztlich als Sterblichkeit – an sich selbst erkennt und hasst. Deshalb dient auch der Egoismus
genauso wie sein Ausbeutungsgegenstand: der Fremde und Schwächere nie nur vordergründigen Interessen, wie viele Linke meinen und damit in einer Verwertungslogik verharren, sondern hat als Kehrseite von Fremdenfeindlichkeit und Verachtung der Schwachen: als Selbstüberhöhung und Egomanie genauso wie der Fremd- und Schwachgesetzte –, dieselbe Verblendungsfunktion in Bezug auf das existentielle und „unter-bewusste“ Erkennen der eigenen Hinfälligkeit. Dieser „ontologische Sinnzusammenhang“ entgeht unserem Blick, und gerade das macht ihn so gefährlich. Wir laufen heute Gefahr, dass ein oft vorschnell überwunden und als unergründlich geglaubtes Denken und Verhalten zu neuem Leben erwacht, welches wie jedes Denken und Verhalten dann am zuverlässigsten von uns Besitz ergreift, wenn es selbst nicht in den Blick gerät. Seien wir also wachsam! Die oft als abgehoben bezeichnete Philosophie kann uns bei diesem Wachen helfen und dabei ihre eminent praktische Funktion beweisen.

Matthias Bertschinger, Nunningen

Dienstag, 2. Oktober 2012

Haut ab!

Dieses Wortspiel ist der GENIALE Titel eines Buches des Judaistik-Professors Alfred
Bodenheimer aus Basel über die Juden und die Brit Mila bzw. über die unsägliche
Beschneidungsdebatte. Genial, weil es unser Ressentiment und den Vorwand für unser
Ressentiment auf einen Nenner bringt.
Der Schock, so Alfred Bodenheimer, ist, wie schnell sich die grosse Menge der Bevölkerung gegen eine Minderheit mobilisieren lässt. Mir sitzt dieser Schock allerdings nicht erst seit dem "Kölner Urteil" in den Knochen, sondern seit dem 29. 11. 09: Seit dem Tag, an welchem wir Schweizerinnen und Schweizer die Minarettinitiative angenommen haben.

Donnerstag, 13. September 2012

Werbung versus Demokratie

Infosperber & Wochenblatt für das Laufental und Schwarzbubenland, 20. September 2012

Werbung nervt, wo sie Verstand und Geschmack beleidigt. Mich nervt sie auch, wo sie als Kunst daherkommt. Weil Kunst sich ihrer Sache entäussert, wo sie zur Werbung wird. Kunst und auch Politik entäussern sich ihrer Sache dort, wo es ihnen darum geht, Menschen nur etwas anzudrehen. Damit halten sie Menschen von dem ab, was sie etwas angeht. Es ist das, was mich an Werbung nervt: Dass sie uns für blöd verkauft, indem sie uns nach dem Mund redet und uns so am Ende selber blöd dastehen lässt; dass sie Information oder Volksnähe vortäuscht, aber Desinformation und Entmündigung will; dass sie das Subjekt verneint und damit in Widerspruch gerät zur Demokratie, die den Menschen für voll nimmt.


Ein Beispiel: Die Entschädigungen für Parlamentarier seien zu hoch, hört man immer wieder. Das schmeichelt dem Volk, Linke nicht ausgenommen: Haben doch „die da oben“ erst kürzlich Asylbewerber auf Nothilfe gesetzt. Die sollten mal bei sich selbst kürzen, geht das Gerede, das ausgerechnet ihren Vertretern schadet. Ein Nationalrat dürfe höchstens einen Drittel seines Gehalts mit dem Volksmandat verdienen, fordert Christoph Blocher in der Der Sonntag vom 9. Sept. 2012: "Und zwei Drittel in der freien Wirtschaft. Ich überlege mir, hier mit einer Initiative vors Volk zu gehen, um diesen Missstand zu beheben", so der Volkstribun. Nach Bern soll also nur noch, wer es sich leisten kann. Oder wer für Konzerne und Banken lobbyiert, wer Zigtausende für ein Verwaltungsratsmandat kassiert. Bestechlichkeit wird schöngeredet. Von "zwei Dritteln seiner Zeit in die Privatwirtschaft investieren" ist ja nicht die Rede.

Gute Gesetzgebung muss und darf etwas kosten, weil sie Arbeit ist. Wird diese nicht mehr anständig honoriert, sitzen in den Parlamenten bald nur noch jene, die es nicht nötig hätten, zu arbeiten: Marktschreier, die uns einreden, es sei sowieso der Markt, der alles zum Besten regle – und das erst noch gratis! Gesellschaft als Gestaltungsaufgabe? Ideologie! Demokratie? Bloss hinderlich, wenn auch uneingestandenermassen. Falls es zu dieser Initiative kommt, wird PR (neudeutsch für Werbung und Propaganda) wieder einmal dafür sorgen, dass das Volk den Missstand ausmacht, wo er nicht ist.

L'etat c'est moi: Heute kommt Absolutismus nicht mehr so unverblümt daher. Umso mehr kann er sich einschleichen. PR machts möglich. PR macht, dass wir mit denjenigen blöken, denen es um unsere Entmündigung geht. Geld regiert die Welt, aber nur dank uns Dummen. Man kann es auch umdrehen: Dummheit regiert die Welt, aber nur dank des Geldes. Denn das Wort hat, wer bezahlt. Argumente gehen da unter.

Eine reife Demokratie schwört auf Argumente und ist allergisch gegen Verführung jeder Art. Ein wichtiger Schritt hin zu einer solchen „démocratie à venir“ wäre, politische Arbeit endlich besser zu bezahlen. Doch es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen: Dass uns beim Wort „Parteienfinanzierung“ die Galle hochkommt, verdanken wir nicht zuletzt PR-Leuten und dem, was sie tagtäglich absondern: „Bullshit“. (Ich empfehle das gleichnamige Buch von Harry G. Frankfurt zur Lektüre.)

Sonntag, 9. September 2012

Wir Dummen

(Der Sonntag, 16. Sept. 2012)

Ein Nationalrat dürfe höchstens einen Drittel des Gehalts mit dem Mandat verdienen, fordert Blocher (Der Sonntag, 9. Sept. 2012): "Und zwei Drittel in der freien Wirtschaft. Ich überlege mir, hier mit einer Initiative vors Volk zu gehen, um diesen Missstand zu beheben", so Blocher.
Nach Bern soll nur noch, wer es sich leisten kann, heisst das. Oder wer für Konzerne und Banken lobbyiert: wer Zehntausende für ein Verwaltungsratsmandat einkassiert. Korruption wird schöngeredet mit "zwei Drittel seines Gehalts in der Privatwirtschaft verdienen". Von "zwei Drittel seiner Zeit in die Privatwirtschaft investieren" ist ja nicht die Rede (wer wollte das auch messen?).
Soviel zum Demokratieverständnis dieses selbsternannten Patrioten. Die PR-Profis seiner Partei werden dafür sorgen, dass das Volk auch dieses Mal den Missstand ausmacht, wo er nicht ist. Geld regiert die Welt, aber nur dank uns Dummen.

Donnerstag, 6. September 2012

Degoutant



(Basellandschaftliche Zeitung vom 7. Sept. 2012)
Gotthard Frick schreibt in seinem Leserbrief (Basellandschaftliche Zeitung, 6. Sept. 2012) über den Steuerstreit, deutsche Politiker stellten die Interessen ihres Vaterlandes über das Recht, wenn sie gestohlene Steuer-CD kaufen. Frick zieht einen unappetitlichen Vergleich: Schon Hitler habe das, was er als Interesse des deutschen Vaterlandes betrachtete, weit über das Recht gestellt. Dieser Geist des Unrechts lebe bei deutschen Politikern offensichtlich weiter, so Frick. Es fragt sich allerdings, ob dieser Geist nur weht, wo ihn Frick ausmacht. Tatsache ist, dass gerade wir Schweizer
unsere „vaterländischen“ Interessen weit über die Moral stellen, wenn wir mit unserem Bankgeheimnis die Steuerhoheit anderer Länder untergraben. Sich laut über das Fehlverhalten anderer zu beklagen, um vom eigenen Fehlverhalten abzulenken, zeugt gerade von jenem Geist, dem es nur um die eigenen Vorteile geht. Unsere Kritik an den Deutschen ist geheuchelt, und wie sie daherkommt nicht selten degoutant.

Sonntag, 29. Juli 2012

Zur Beschneidungsdebatte

Ich danke Xaver Pfister (ferienbedingt etwas verspätet) für seinen Gastbeitrag in der Basellandschaftlichen Zeitung vom 14 Juli mit dem Titel "Kulturkampf bis aufs Messer".
Es ist Kennzeichen sowohl radikaler Religionskritiker als auch religiöser Fundamentalisten und Traditionalisten, dass sie Aufklärung und Religion als unvereinbar behaupten, heilige Schriften nur wörtlich auszulegen imstande sind und ihren symbolischen Gehalt nicht erkennen, etwa den radikal atheistischen Charakter des Neuen Testaments (ich verweise auf Autoren wie Bultmann, Bloch, Sölle oder den Schweizer Theologen Kurt Marti).
Es ist das Anmassende, wie wir vermeintlich Aufgeklärten auf andere Erfahrungssysteme von Welt herabblicken und das Bornierte hinter einer Gleichsetzung von Religion mit vorsintflutlich, das Religiöse zu recht so verletzt und wütend macht. Mit einer selbstkritischeren Haltung kämen wir dem Konsens näher, den wir anstreben: Heilige Schriften wenigstens dort nicht mehr so eng auszulegen, wo das zu Konflikten mit der persönlichen Freiheit, den Menschenrechten oder zu Kriegen und immensem menschlichen Leid führt.
Traurig ist, dass ausgerechnet wir vorgeblich so Aufgeklärten oft ebensowenig wie Religiöse erkennen, dass wir uns selbst in einem ganz bestimmten Erfahrungssystem von Welt bewegen, über welches wir nicht hinausblicken, weil Kultur eine solche "Verblendugungsfunktion" hat; dass auch wir "Aufgeklärten" nicht merken, dass wir immer auch für unser Erfahrungssystem oder Weltbild kämpfen, wo wir meinen, uns gehe es nur um die Aufklärung und die Menschenrechte; wie wir also selbst in jene Kulturkämpfe um Weltbilder verstrickt sind, um deren Überwindung es der Aufklärung geht.

Offener Brief an Esther Gassler

Offener Brief
(Als Leserbrief in der Basellandschaftlichen Zeitung vom 31. Juli 2012)

Nunningen, 29. Juli 2012

Sehr geehrte Frau Vize-Landammann Gassler

Sie haben Mitte Juni in der Schlosskirche Spiez ehemaligen Mitgliedern der Geheimorganisation P-26 in einer Rede für ihre "Verdienste um die Schweiz" gedankt.

Ich bedaure diese Ehrung ausserordentlich. Dass Mitglieder einer mit Sprengstoff und Waffen ausgerüsteten Geheimorganisation, die ohne gesetzliche Grundlage, ohne parlamentarische Kontrolle und ohne Wissen des Bundesrates im rechtsfreien Raum operierte, von offizieller Seite geehrt werden, ist nicht nur eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig. Es ist auch ein Schlag ins Gesicht all jener engagierten Bürgerinnen und Bürger, die von dieser Organisation unter Generalverdacht gestellt wurden: Linke, Grüne, Drittwelt-Aktivisten und AKW-Gegner.

Mit freundlichen Grüssen
Matthias Bertschinger, Gemeinderat (Grüne), Nunningen

Freitag, 29. Juni 2012

"Solidarität"

Leserbrief zu einem Kommentar von Stefan Schmid in der Basellandschaftlichen Zeitung vom 29. Juni 2012

Wir beschäftigen über eine Million EU-Bürger, gehen in der EU in die Ferien, sind ein guter Wirtschaftspartner und stützen den Franken. Stefan Schmid schliesst daraus auf unsere Solidarität mit der EU. Das ist, wie wenn ich mir einrede, aus Solidarität mit dem Wirt zu saufen. Hinter einem solchen Denken steckt Ideologie: Solidarität ergibt sich aus Eigennutz und fällt sozusagen vom Himmel. Eigentlich könnte man den Begriff "Solidarität" damit abschaffen. Wenn wir ihn dennoch ständig bemühen, dann zeigt sich darin das verschämte Wissen, dass Solidarität eben doch nicht so billig zu haben ist. Aber Inseldenken braucht diese Umdeutung. Wir können nur egoistisch sein, wenn wir uns einreden, es nicht zu sein.

Dienstag, 5. Juni 2012

Zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative

Basellandschaftliche Zeitung vom 6. Juni 2012

Dass die Ausschaffungsinitiative nicht nach ihrem Wortlaut umgesetzt werden kann, bezeichnen Manche als undemokratisch. Doch die Ausschaffungsinitiative rüttelt an grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien, dank welcher wir überhaupt Demokratie "haben". So sind wir beispielsweise nicht frei, Sozialhilfeempfängern auf "demokratischem" Weg das Stimmrecht zu entziehen; schon die nächste Abstimmung wäre nicht mehr demokratisch. Wenn wir uns als politischer Teilnehmer gegen fundamentale Rechtsprinzipien und Freiheitsrechte wenden, wenden wir uns - leider oft ohne es zu merken - gegen uns selbst als Träger dieser Freiheitsrechte und damit auch gegen uns selbst als politischer Teilnehmer. Denn nur als Freie können wir überhaupt politischer Teilnehmer sein. Abgeschafft wird die Demokratie von jenen, die nicht merken, wo sie an ihrer eigenen Freiheit rütteln und meinen, Demokratie bedeute, dass man alles darf. Unsere politische Freiheit verdanken wir dem Umstand, dass wir uns überhaupt gegenseitig als Freie und Gleiche anerkennen und die grundlegenden Verfassungsnormen respektieren, die Ausdruck dieser gegenseitigen Anerkennung sind. Abgeschafft wird die Demokratie, wenn wir den gegenseitigen Respekt nicht mehr leben, der uns erst zu Demokraten macht.

Dienstag, 22. Mai 2012

"Was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?"

Onlineplattform Infosperber vom 24. Mai 2012, Basellandchaftliche Zeitung vom 16. Juni 2012.

„Die direkte Demokratie“ verkommt allmählich zu einer Ausrede für Weltflucht. Wir sind gegen mehr gemeinsames (Völker-)Recht, gegen gemeinsame (und eben nicht „fremde“) Richter und gegen so genannte „undemokratische“ Gebilde wie die EU; wir wollen „im Gegenteil“ mehr direkte Demokratie, denn: Hätten wir mehr direkte Demokratie, wäre automatisch Vieles besser. „Die direkte Demokratie“ steht nicht mehr nur für ein Verfahren mit seinen Vor- aber auch Nachteilen, sondern verkommt zu einer Ideologie. Das zeigt sich auch und gerade in den Diskussionen rund um die Initiative "Staatsverträge vors Volk!": Die Frage "was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?" entwaffnet, weil sie sich auf einen Glauben stützt – auf ein Denkverbot.
Der Überhöhung der direkten Demokratie liegt nicht ein Wille zu mehr Freiheit zugrunde, sondern im Gegenteil eine Angst vor Freiheit, Weltoffenheit, moderner Staatlichkeit überhaupt und „global governance“ sowieso. Die direkte Demokratie dient uns als Ausrede für unsere Weltflucht: Nur wo Alle über Alles in kleinen Gemeinschaften befinden können, sei der Mensch sich nicht selbst entfremdet, geben wir uns überzeugt. Europäische und weltweite Integration setzen wir kurzerhand mit weniger Demokratie gleich. Oder wir rationalisieren unseren Rückzug in die Isolation, indem wir die weltweiten Probleme erst gar nicht als unsere eigenen betrachten. So müssen wir uns auch nicht in Problemlösungsstrukturen einbinden lassen, die eine Lösung der weltweiten Probleme bezwecken. In der Überhöhung der direkten Demokratie zeigt sich eine Verweigerung der Einsicht, Teil eines Ganzen zu sein, und für dessen Schicksal, das auch unser eigenes ist, mitverantwortlich zu sein.
Doch wir sind Teil dieser Welt, ob wir das sehen wollen oder nicht. Unsere hoch technisierte und globalisierte Welt bedarf dringender denn je einer Stärkung internationaler Politikebenen, um weltweit akzeptierte Standards des Minderheitenschutzes durchzusetzen, globalisierte Finanzmärkte wieder in den Dienst der Menschen zu stellen, globale Güter (Wasser, Luft, Biosphäre) zu schützen oder die nukleare Non-Proliferation zu intensivieren. Nur gemeinsam lassen sich Sachzwänge wie der Standortwettbewerb überwinden, der auf die Zerstörung sämtlicher Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards hinausläuft. Nur durch ein gemeinsames Vorgehen erhalten die Völker dieser Erde ihre Handlungsfähigkeit – ihre Souveränität! – zurück. Überstaatliche „Weltinnenpolitik“ bedeutet also keineswegs weniger Demokratie und Souveränität. Denn was nützt die Souveränität auf dem Papier, wo der einzelne Staat nicht mehr handlungsfähig ist, weil er von der globalisierten Wirtschaft gegen andere Staaten ausgespielt wird?
Den Initianten der Initiative „Staatsverträge vors Volk!“ geht es nicht um die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen und Völker – im Gegenteil. Hinter dieser Initiative stehen Kreise, die an einer handlungsfähigen und demokratischen internationalen Gemeinschaft, die den Menschen und Völkern ihre Souveränität wieder zurückgeben könnte, nicht das geringste Interesse haben. Wir wären gut beraten, davor nicht länger die Augen zu verschliessen und uns freiwillig unterdrückenden Strukturen zu beugen, weil sie trügerischen Halt bieten.

Standortwettbewerb

Nicht mehr wir Bürgerinnen und Bürger bestimmen, wie viel Geld der Staat zur Bewältigung seiner Aufgaben einnehmen soll, sondern der Standortwettbewerb. Damit bestimmt der Standortwettbewerb auch, welche Aufgaben der Staat überhaupt noch wahrnehmen soll. Standortwettbewerb ist ein Sachzwang, dem gehuldigt wird, weil man mit Verweis auf ihn Partikularinteressen auf eine erpresserische Weise durchsetzen kann, ohne als Erpresser dazustehen: „Wenn Ihr die Unternehmenssteuern nicht senkt, wandern wir ab“. Bürgerliche und Firmenchefs sprechen diese Drohung offen aus und stellen damit ihr Demokratieverständnis unter Beweis. Zuletzt Christophe Haller, FDP Basel, in seinem Leserbrief hier in der Basellandschaftlichen Zeitung: Wir sollten „alles (sic!) tun, um die vielen Arbeitsplätze“ zu erhalten. Also tun wir zum wiederholten Male alles, was uns befohlen wird. Wir senken die Unternehmenssteuern, um die vielen Arbeitsplätze zu erhalten. Dadurch wird die Standortattraktivität anderswo schlechter, und es werden dort die Unternehmenssteuern gesenkt. Danach sind wir wieder dran. Und so weiter. Das bürgerliche Geschäft mit der Angst wird noch solange funktionieren, bis wir merken, dass dem Krebsübel Standortwettbewerb nur überregional und transnational beizukommen ist, und dass es gälte, die entsprechenden Politikebenen zu stärken statt zu verteufeln. Doch bevor wir Schweizer in Gebilden wie der EU ein Mittel der Befreiung statt Unterdrückung erblicken, werden wir uns wohl noch hundert Mal erpressen lassen.

Samstag, 14. April 2012

Zum Grass-Gedicht

Konflikte löst man nicht, wenn man nach Schuld in der Vergangenheit sucht. Ein oft gehörtes Missvertändnis in diesem Zusammenhang ist, dies hiesse Vergessen. Das ist falsch. Freiheit liegt laut Hannah Arendt in der Fähigkeit, immer wieder neu anfangen zu können. Das heisst nicht, die Vergangenheit zu vergessen. Aber ihr ist unser gegenwärtiges Handeln nicht geschuldet, sondern der Zukunft. Wenn man seinen Kontrahenten aber mit Schuldzuweisungen auf die Vergangenheit festlegt, die er nicht mehr ändern kann, verwehrt man ihm gerade diesen Neuanfang. Resultat: Unlösbare Konflikte. Gerade das lehrt die Vergangenheit!

Freitag, 13. April 2012

Was auch noch gesagt werden muss...

"Das ist ein Versuch, die EU zu spalten", meint der
Politologe Thomas Rixen in "Der Standard" zu den Steuerabkommen der Schweiz mit Österreich, Grossbritannien und Deutschland. Recht hat er. Dass wir bei den weltweiten Anstrengungen, Recht zu transnationalisieren (um als Gesellschaften aller Länder gegenüber dem längst globalisierten Kapital wieder Handlungsmacht, sprich Souveränität, zurückzugewinnen) nicht nur nicht mitmachen, sondern diese aktiv hintertreiben, ist nichts weniger als Verrat an der Idee der Freiheit aller Menschen und der Demokratie. Und was auch noch gesagt werden muss: Die Rolle der NZZ bei diesem kleingeistigen Spiel ist beschämend. Weniger populistischer "mainstream" stünde einem Blatt mit dieser Tradition und einem Blatt, das nicht nur Sprachrohr sein will, besser an.

Mittwoch, 4. April 2012

Deutsch und deutlich

(nicht woanders veröffentlicht)

Empörend ist, dass wir die Haltung vieler Deutschen zum Anlass nehmen, uns über sie zu empören, um davon abzulenken, was eigentlich empörend ist: Dass wir Schweizer fortwährend die Steuerhoheit anderer Länder über ihre Bürger sabotieren. Unser Gesetzesrecht über das Bankgeheimnis ist Unrecht, da es die legitime Sphäre der Besteuerung, die an den Wohnsitz der Steuerpflichtigen gekoppelt ist, unterläuft. Aber wer sagt das hierzulande schon deutsch und deutlich? Wenn wir Politik nur noch als Machtpolitik begreifen, und es als überflüssig erachten, uns zu fragen, was im Umgang miteinander gerecht ist, dann ist der Weg zurück ins Mittelalter vorgezeichnet.

Montag, 2. April 2012

Deutungshoheit

Der grosse Nachbarstaat im Norden würde die Deutungshoheit über Begriffe wie Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit beanspruchen, schreibt René Zeller in seinem Kommentar über den Steuerstreit (NZZ vom 2. April 2012). Beim Steuerstreit zwischen Deutschland und der Schweiz geht es aber nicht primär um Deutungshoheit, sondern um Steuerhoheit. Es geht um den fortgesetzten und skandalösen Angriff auf die Steuerhoheit Deutschlands über seine Bürger durch die Schweiz.
Deutungshoheit hat, wer es schafft, Völker gegeneinander aufzuhetzen, um von seinen wahren Interessen abzulenken.
Es mögen zwar auch wahltaktische Interessen eine Rolle spielen, wenn Deutsche sich nun über die Schweiz empören. Ihre Wut über die Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch ein befreundetes Land ist aber grundsätzlich völlig berechtigt und nicht gespielt. Uns hingegen geht es nur um den Profit. Die Behauptung, wir Schweizer hätten eben ein anderes Rechtsempfinden, ist ebenso vorgeschoben wie unsere Empörung über die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien im Zusammenhang mit dem Datenklau geheuchelt. Trotzdem sind wir nicht alle einfach "bösgläubig". Denn wer Ausreden unablässig wiederholt, glaubt sie am Ende oft selber.

Sonntag, 1. April 2012

Staatsverträge vors Volk?

Der Begriff „direkte Demokratie“ verkommt allmählich zu einem Antonym, einem Gegenwort zu mehr übergreifender Zusammenarbeit: Wir sind gegen „fremde Richter“, gegen die „undemokratische“ EU und gegen die „Transnationalisierung des Rechts“. Wir wollen im Gegenteil mehr direkte Demokratie. Denn hätten wir mehr direkte Demokratie, wäre automatisch Vieles besser. Das ist inzwischen ein Allgemeinplatz. Doch durch diesen Glauben wird die direkte Demokratie verklärt, und Verklärtes darf man nicht hinterfragen, wenn es nach den Gläubigen geht. Wir werden es bei der Abstimmung "Staatsverträge vors Volk!" wieder hören: "Was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?" Diese Frage entwaffnet, weil sie sich auf einen Glauben stützt, auf ein Denkverbot. Folglich klingt auch jeder Einwand verdächtig nach Landesverrat, so berechtigt er auch sein mag. Trotzdem: Sollte man nicht ein Optimum an direkter Demokratie anstreben, und nicht ein Maximum?

Die „direkte Demokratie“ steht wie der Begriff „Heimat“ zunehmend für eine vage Wunschvorstellung, wie es sein müsste oder vorgeblich einmal war. „Direkte Demokratie“ steht nicht mehr nur für ein Verfahren mit all seinen Vor- aber auch Nachteilen. Das aber sollte uns zu denken geben. Es macht sich eine Skepsis gegen komplexe Organisation breit, gegen das moderne Staatssystem überhaupt und gegen „Global Governance“ sowieso. Nur wo Alle über Alles in kleinen Gemeinschaften befinden können, sei der Mensch sich nicht selbst entfremdet, glauben Viele. Dass es einen höheren Organisationsgrad braucht, um Gemeinschaften auch voreinander zu schützen, blenden wir dabei aus. Europäische und weltweite Integration setzen wir kurzerhand mit weniger Demokratie gleich. Jetzt müsse erst einmal gebremst werden, dann sehen wir weiter, heisst es. Doch die weltweite Entwicklung wartet nicht auf uns, und sie betrifft uns! Zudem ist diese Haltung bequem, denn sie befreit davon, sich hier und heute mit den schwierigen Zukunftsfragen zu befassen, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen und sich dabei der Regelungssysteme und Verfahren zu bedienen, die dafür entwickelt wurden.

Unsere hoch technisierte und globalisierte Welt ist dringender denn je auf gut funktionierende supranationale Politikebenen angewiesen, um weltweit akzeptierte Standards des Minderheitenschutzes durchzusetzen, globalisierte Finanzmärkte wieder in den Dienst der Menschen zu stellen, globale Güter (Wasser, Luft, Biosphäre) zu schützen, Konflikte friedlich zu lösen oder die nukleare Non-Proliferation zu intensivieren. Nur so lassen sich viele Sachzwänge überwinden wie das Wettrüsten oder das Wett-Abrüsten bei sog. „Standortnachteilen“. Nur gemeinsam erhalten wir hier Handlungsfähigkeit zurück. Zudem betreffen Handlungen eines Nationalstaates heute oft die Weltgemeinschaft als ganze. Undemokratisch ist aber gerade, wo ein Nationalstaat alleine (souverän) bestimmt, was Auswirkungen auf alle übrigen Staaten hat. Insbesondere blenden wir aus, dass wir im Atomzeitalter leben. Wir vertrauen auf den Zufall, dass kein Verrückter auf den roten Knopf drückt. Wir haben mörderische Techniken entwickelt, ohne im Gegenzug genügend wirksame Kontrollmöglichkeiten zu schaffen. „Apokalypseblindheit“ nannte der Philosoph Günther Anders das Phänomen, dass uns diese Bedrohung nur am Rande kümmert. Wir handeln nicht, weil wir wegsehen wie kleine Kinder bei drohender Gefahr, und indem wir nicht handeln, bremsen wir auch jene, die endlich handeln wollen.

Überstaatlich organisierte „Weltinnenpolitik“ steht keinesfalls notwendig in einem Gegensatz zu mehr Demokratie. Übergeordnete Politikebenen sind wie der moderne Bundesstaat von unten demokratisch legitimieret und mit nachgeordneten Politikebenen verzahnt. Nur was auf einer unteren Politikebene nicht gelöst werden kann, wird „nach oben“ delegiert: Es gilt das Prinzip der Subsidiarität. Da man in vielen Fällen erst handlungsfähig ist, wenn man zusammenarbeitet, resultiert ein Souveränitätsgewinn. Denn was nützt Souveränität in all jenen Fällen, welche uns zwar existentiell betreffen, wir alleine aber nicht lösen können?

Den Initianten der Initiative „Staatsverträge vors Volk“ geht es nicht um mehr Demokratie, sondern um die Behinderung internationaler Zusammenarbeit. Sie bedienen sich einer Verunsicherung, die mit dem globalen Modernisierungsprozess einhergeht und dazu führt, dass breite Bevölkerungsgruppen sich vom bedrohlich wirkenden Weltgeschehen abwenden.
Auffällig ist, dass hinter der Initiative Kreise stehen, die am Fortbestehen der Konkurrenz zwischen Staaten, am so genannten „Standortwettbewerb“, ein ökonomisches Interesse haben. Handlungs- und gestaltungsfähige supranationale Organisationen oder effiziente Verfahren, die dem Wählerwillen auf überstaatlicher Ebene Nachdruck verleihen, gefährden ihr Geschäft. Sie wollen nicht mehr Demokratie, wie sie uns einreden, sondern weniger. Sie predigen direkte Demokratie, aber dienen selber dem Mammon. Um von ihren wahren Motiven abzulenken, fragen sie: „Was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?“, und blinzeln dabei wie Nietzsches letzte Menschen.