Sonntag, 1. April 2012

Staatsverträge vors Volk?

Der Begriff „direkte Demokratie“ verkommt allmählich zu einem Antonym, einem Gegenwort zu mehr übergreifender Zusammenarbeit: Wir sind gegen „fremde Richter“, gegen die „undemokratische“ EU und gegen die „Transnationalisierung des Rechts“. Wir wollen im Gegenteil mehr direkte Demokratie. Denn hätten wir mehr direkte Demokratie, wäre automatisch Vieles besser. Das ist inzwischen ein Allgemeinplatz. Doch durch diesen Glauben wird die direkte Demokratie verklärt, und Verklärtes darf man nicht hinterfragen, wenn es nach den Gläubigen geht. Wir werden es bei der Abstimmung "Staatsverträge vors Volk!" wieder hören: "Was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?" Diese Frage entwaffnet, weil sie sich auf einen Glauben stützt, auf ein Denkverbot. Folglich klingt auch jeder Einwand verdächtig nach Landesverrat, so berechtigt er auch sein mag. Trotzdem: Sollte man nicht ein Optimum an direkter Demokratie anstreben, und nicht ein Maximum?

Die „direkte Demokratie“ steht wie der Begriff „Heimat“ zunehmend für eine vage Wunschvorstellung, wie es sein müsste oder vorgeblich einmal war. „Direkte Demokratie“ steht nicht mehr nur für ein Verfahren mit all seinen Vor- aber auch Nachteilen. Das aber sollte uns zu denken geben. Es macht sich eine Skepsis gegen komplexe Organisation breit, gegen das moderne Staatssystem überhaupt und gegen „Global Governance“ sowieso. Nur wo Alle über Alles in kleinen Gemeinschaften befinden können, sei der Mensch sich nicht selbst entfremdet, glauben Viele. Dass es einen höheren Organisationsgrad braucht, um Gemeinschaften auch voreinander zu schützen, blenden wir dabei aus. Europäische und weltweite Integration setzen wir kurzerhand mit weniger Demokratie gleich. Jetzt müsse erst einmal gebremst werden, dann sehen wir weiter, heisst es. Doch die weltweite Entwicklung wartet nicht auf uns, und sie betrifft uns! Zudem ist diese Haltung bequem, denn sie befreit davon, sich hier und heute mit den schwierigen Zukunftsfragen zu befassen, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen und sich dabei der Regelungssysteme und Verfahren zu bedienen, die dafür entwickelt wurden.

Unsere hoch technisierte und globalisierte Welt ist dringender denn je auf gut funktionierende supranationale Politikebenen angewiesen, um weltweit akzeptierte Standards des Minderheitenschutzes durchzusetzen, globalisierte Finanzmärkte wieder in den Dienst der Menschen zu stellen, globale Güter (Wasser, Luft, Biosphäre) zu schützen, Konflikte friedlich zu lösen oder die nukleare Non-Proliferation zu intensivieren. Nur so lassen sich viele Sachzwänge überwinden wie das Wettrüsten oder das Wett-Abrüsten bei sog. „Standortnachteilen“. Nur gemeinsam erhalten wir hier Handlungsfähigkeit zurück. Zudem betreffen Handlungen eines Nationalstaates heute oft die Weltgemeinschaft als ganze. Undemokratisch ist aber gerade, wo ein Nationalstaat alleine (souverän) bestimmt, was Auswirkungen auf alle übrigen Staaten hat. Insbesondere blenden wir aus, dass wir im Atomzeitalter leben. Wir vertrauen auf den Zufall, dass kein Verrückter auf den roten Knopf drückt. Wir haben mörderische Techniken entwickelt, ohne im Gegenzug genügend wirksame Kontrollmöglichkeiten zu schaffen. „Apokalypseblindheit“ nannte der Philosoph Günther Anders das Phänomen, dass uns diese Bedrohung nur am Rande kümmert. Wir handeln nicht, weil wir wegsehen wie kleine Kinder bei drohender Gefahr, und indem wir nicht handeln, bremsen wir auch jene, die endlich handeln wollen.

Überstaatlich organisierte „Weltinnenpolitik“ steht keinesfalls notwendig in einem Gegensatz zu mehr Demokratie. Übergeordnete Politikebenen sind wie der moderne Bundesstaat von unten demokratisch legitimieret und mit nachgeordneten Politikebenen verzahnt. Nur was auf einer unteren Politikebene nicht gelöst werden kann, wird „nach oben“ delegiert: Es gilt das Prinzip der Subsidiarität. Da man in vielen Fällen erst handlungsfähig ist, wenn man zusammenarbeitet, resultiert ein Souveränitätsgewinn. Denn was nützt Souveränität in all jenen Fällen, welche uns zwar existentiell betreffen, wir alleine aber nicht lösen können?

Den Initianten der Initiative „Staatsverträge vors Volk“ geht es nicht um mehr Demokratie, sondern um die Behinderung internationaler Zusammenarbeit. Sie bedienen sich einer Verunsicherung, die mit dem globalen Modernisierungsprozess einhergeht und dazu führt, dass breite Bevölkerungsgruppen sich vom bedrohlich wirkenden Weltgeschehen abwenden.
Auffällig ist, dass hinter der Initiative Kreise stehen, die am Fortbestehen der Konkurrenz zwischen Staaten, am so genannten „Standortwettbewerb“, ein ökonomisches Interesse haben. Handlungs- und gestaltungsfähige supranationale Organisationen oder effiziente Verfahren, die dem Wählerwillen auf überstaatlicher Ebene Nachdruck verleihen, gefährden ihr Geschäft. Sie wollen nicht mehr Demokratie, wie sie uns einreden, sondern weniger. Sie predigen direkte Demokratie, aber dienen selber dem Mammon. Um von ihren wahren Motiven abzulenken, fragen sie: „Was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?“, und blinzeln dabei wie Nietzsches letzte Menschen.

2 Kommentare:

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  2. Tja, lieber Matthias, ich hatte im letzten Herbst gedacht, die SVP werde langsam gestoppt. Aber ihr als "Mehr an Freiheit" getarntes Credo der "Furcht vor der Freiheit" stösst in der immer komplizierteren immer globalisierteren Welt halt auf immer mehr Geborgenheit in der strukturellen Einfachheit suchende autoritäre Charaktere. Letztere rennen ideologisch und religiös lieber einem Führer nach, als den ungeheuren Energieaufwand des selber (bewussten) Denkens aufbringen zu müssen.
    Es liegt an uns, immer und immer wieder illusionäre Freiheiten zu entlarven und dadurch echte Freiheiten zu stärken.
    Lieber Gruss aus Baden
    Thomas

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