Mittwoch, 18. Januar 2012

Europa und die Schweiz

Basellandschaftliche Zeitung vom 20. Januar 2012, NZZ vom 10. Februar 2012

In seinem Plädoyer gegen die EU und gegen einen Bundesstaat Europa schreibt der Historiker René Roca in der NZZ vom 6.Februar 2012, die heutige Situation in der EU sei keineswegs vergleichbar mit der Situation der Schweiz vor der Bundesstaatsgründung von 1848. Denn in den einzelnen Ländern der EU seien bis auf Irland nicht einmal Volksabstimmungen für Staatsverträge vorgesehen, welche die rechtliche Grundlage bilden für solche supranationalen Gebilde. Ganz anders sei dies bei der Gründung des supranationalen Gebildes Schweiz abgelaufen: "Die Legitimität der Bundesverfassung wurde stark erhöht, weil in allen Kantonen eine Volksabstimmung über das neue Grundgesetz stattfand".
Das stimmt fast. In Freiburg gab es keine Volksabstimmung. Aber weshalb wohl verschweigt der Lehrer Roca, dass die Umwandlung des Staatenbundes souveräner Kantone in einen Bundesstaat Schweiz in den Volksabstimmungen der Kantone Schwyz, Zug, Wallis, Uri, Nid- und Obwalden, Appenzell Innerrhoden und Tessin abgelehnt wurde? Die Völker dieser souveränen Kleinststaaten wurden gegen ihren Willen in das künstliche Gebilde Schweiz gezwungen. Passt diese Tatsache vielleicht nicht in Rocas Polemik gegen die EU?

Montag, 16. Januar 2012

Rückkehr der Moral

Dem zurückgetretenen Präsidenten des Nationalbankdirektoriums ist von mehreren, auch respektablen Seiten (etwa vom Wirtschaftsethiker Florian Wettstein und Ex-Preisüberwacher Rudolf Strahm) fehlendes moralisches Fingerspitzengefühl attestiert worden. Dieser Einschätzung kann man sich anschliessen. Sie sollte aber nur aus einer Haltung heraus angemahnt werden, welche "Moral" als Moral ernst nimmt und nicht als Gelegenheitsinstrument missbraucht. Der Germanist Peter von Matt hat in einem Interview im "Tages-Anzeiger" vom 14. Januar 2012 zu Recht beanstandet, dass manche Politiker Moral und Gewissen wie ein Taschenmesser im Sack haben: "Das können sie hervornehmen, wenn es nötig ist, und danach wieder in den Tiefen des Hosensacks verschwinden lassen."
Der Angriff auf den Nationalbank-Präsidenten erfolgte nicht aus moralischen Motiven. Die Moral – und auch darin liegt das Unmoralische – war nur Vorwand, Mittel zum Zweck. Zu begrüssen ist aber, dass man sich überhaupt wieder auf Moral und Anstand beruft, zumal dieses Bekenntnis die Scheinmoral jener entlarvt, welche sich scheinheilig auf die Moral berufen, obwohl sie sich doch erst gerade als Moralverächter gefielen. Noch bis vor Kurzem sind diejenigen Kräfte unseres Landes, die bei Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit, Pauschaldiffamierung von Sozialhilfebezügern, Integrationshilfe für Zugewanderte usw. an die Moral appellierten, als weiche Gutmenschen verhöhnt worden. Wir freuen uns darüber, dass das Bekenntnis zu Moral und Anstand – wenn auch mit Support von unerwarteter Seite und anlässlich einer wüsten Inszenierung – in der gesellschaftspolitischen Debatte wieder salonfähig geworden ist.

Namens des Vorstandes: Matthias Bertschinger und Georg Kreis

Samstag, 14. Januar 2012

Lehren aus der Affäre

(Basellandschaftliche Zeitung vom 18. Januar 2012, TagesWoche vom 20. Januar 2012, ...)

Blocher konnte die EMS-Chemie seinerzeit nur dank seines Insiderwissens zu einem Spottpreis erwerben. Nicht einmal dieser Umstand hindert ihn heute daran, Hildebrand als unmoralischen Spekulanten hinzustellen, um davon abzulenken, dass nicht erst gewisse Umstände das Spekulieren unmoralisch machen, sondern dass Spekulieren an sich unmoralisch ist. Unmoralisch ist Spekulieren auch und gerade nach wirtschaftsliberalem Moralverständnis, wonach niemand auf Kosten anderer leben soll, sofern er keiner Hilfe bedarf (SVP: „Leistung belohnen – Faulheit bestrafen!“). Spekulanten leben aber immer auf Kosten derer, welche die reale Wirtschaftsleistung erbringen: Auf Kosten von uns Bauern, Arbeiter und Dienstleister.
Hat sich der Wind um die Affäre Hildebrand gelegt, müssen SVP- und geistesverwandte Strategen wieder die alten Sündenböcke beschwören, um davon abzulenken, wer tatsächlich ohne Not auf Kosten der Allgemeinheit lebt. (Das Herumtrampeln auf „Scheininvaliden“, „Scheinasylanten“, „Sozialhilfebetrügern“ und allen anderen „Staatsschmarotzern“ vom Lehrer bis zu „denen da oben“ wirkt zwar langsam etwas ermüdend, ist dafür aber altbewährt und zumindest im Grundton bereits „gut-schweizerisch“, also Sitte.)
Es ist ein altes Rezept der Demagogen, andere dessen zu bezichtigen, was man selbst betreibt. Die Strategie geht auf: Per Knopfdruck das Jahreseinkommen eines Arbeiters zu „verdienen“ wird nur dem SNB-Präsidenten (und seit der Finanzkrise wenigstens auch den anderen Bankern) nicht als Tüchtigkeit ausgelegt, und auf Kosten von uns allen – das meinen die meisten – leben gerade jene nicht, die genug haben. Solange wir uns so leicht hinters Licht führen lassen, sehen wir auch keinen Weg aus der Krise.
(PS.: Ich sei ja bloss neidisch, höre ich bereits. Merke: Mit Killerargumenten Kritik abklemmen gehört ebenfalls ins Repertoire eines Demagogen, und nur seinen Nachschwätzern leuchtet nicht ein, was daran undemokratisch sein soll.)