Ich versuche, die Gedanken schriftlich zu formulieren, welche meinen Voten zum Positionspapier von *** und *** an der letzten Sitzung zugrunde liegen.
Es gälte, die allerärgsten Irrtümer loszuwerden, so ***. *** fragt sich, wie man Irrtümer denn loswerden solle. Denn Irrtümer zu identifizieren setze einen Beurteilungshorizont voraus, der sei aber subjektiv, nicht objektivierbar (vgl. Sitzungsprotokoll).
Statt „Irrtümer identifizieren“ kann man auch sagen „Wahrheit identifizieren“. Man gerät da aber leicht in einen Selbstwiderspruch, und zwar dann, wenn man das Unvermögen, Wahrheit oder Realität zweifelsfrei zu erkennen, mit dem Unvermögen gleichsetzt, eine „bessere“ Realität herbeizuführen, also eine, welche mit weniger Irrtümern behaftet ist. Eine solche Haltung verabsolutiert gerade die vorherrschende Realität: Es wird jener subjektive Beurteilungshorizont objektiviert, welcher sich mehr oder weniger nahtlos in die vorherrschende Konsensrealität einfügt. Nur der Abweichler muss sich die Frage gefallen lassen, wie er denn Irrtümer identifizieren wolle. Wer diesen Versuch erst gar nicht unternimmt, also mögliche Irrtümer einfach hinnimmt, gilt ohne weiteres als Realist.
Dass Dinge sich verändern, ohne dass sie Gegenstand demokratischer Entscheidfindung sind (vgl. Positionspapier), hat seinen Grund wohl auch in dieser Absage an die Gestaltbarkeit der Realität aus einem falsch verstandenen Relativismus. Dieser zweifelt auch noch das Denken selbst an, und mit ihm dessen Fähigkeit, bessere Möglichkeiten von Realität zu entwerfen: gestaltete Zukunfts-Realität und nicht bloss gewordene, die uns immer nur überfährt. Adorno bezeichnete diesen in einen Selbstwiderspruch geratenden Relativismus als eine „beschränkte Gestalt des Bewusstseins“. Denn Denken ist nur solange frei, wie es mit den Irrtümern nicht auch noch sich selbst anzweifelt.
Sich selbst anzweifeln kann es aber, da es erkennt, dass es Irrtümern unterliegt. Doch es unterliegt ihnen eben nicht nur, sondern erkennt ja auch, dass es ihnen unterliegt. Damit ist das Denken aber auch fähig, Irrtümer zu beseitigen, und unterliegt ihnen nicht (nur). Ein zum Selbstwiderspruch geratender Relativismus beseitigt dagegen den subjektiven Beurteilungshorizont als einzig möglichen. Erst diese Beseitigung macht es unmöglich, Irrtümer zu identifizieren.
Es ist anzunehmen, dass Menschen diesen Selbstwiderspruch im Denken willentlich herbeiführen. Sartre spricht von „la mauvaise foi“: Denken denkt sich absichtlich selbst weg. Über die Motive kann man streiten. Weil Denken den Menschen radikal aussetzt, wählt man den Selbstwiderspruch im Denken m.E. bewusst, um sich nicht zu sehr auszusetzen. Die Unterordnung unter eine Konsensrealität wirkt dagegen integrativ. Adorno wiederum sieht die Motivation im Besitzstandsdenken: „Der Gedanke stört den Erwerb“. Diese Sichtweise greift m.E. zu kurz, denn: Weshalb heulen gerade die Gebückten oft am lautesten mit den Wölfen? Wohl kaum aus der Tagträumerei heraus, zu diesen aufsteigen zu können, sondern um sich deren Schutz zu unterstellen und demjenigen der (sich abzeichnenden) Mehrheit oder einer starken Minderheit. Solche Prozesse können schnell eine unheimliche Eigendynamik entwickeln. Mitlaufen integriert, sich selbst treu bleiben kann dagegen tödlich enden. Das weiss man instinktiv.
Aus welchen Gründen auch immer man das Denken „abstellt“: Gerade kritisch Denkende sollten Relativismus nicht als Ausrede benützen, um sich selbst nicht mehr fragen zu müssen, was gerecht ist und was nicht, und sich für eine gerechtere Realität einsetzen. Der an sich selbst nagende Zweifel hingegen raubt Menschen die Sprache für das hierfür erforderliche Engagement.
Mitglieder des *** sollten dazu ermutigen, dem eigenen, je subjektiven Gerechtigkeitsempfinden wieder mehr zu vertrauen und diesem gemäss zu handeln, statt nur die Irrtumsanfälligkeit und Unwissenschaftlichkeit von Subjektivität hervorzukehren. Denn dieser Schuss geht wie gezeigt oft nach hinten los. Der *** sollte einem „Aufstand des Gewissens“ (Jean Ziegler) das Wort reden und dazu aufrufen, Irrtümer gemeinsam, demokratisch loszuwerden. Das heisst: Zum Willen ermutigen, die je eigenen Irrtümer zu identifizieren. Denn sie lassen sich identifizieren, aber eben nur, wenn man das überhaupt will.
Zu selbständigen Denken ermutigt, wer Fragen in den Raum stellt. Die allerärgsten Irrtümer wird man vielleicht gerade nicht dadurch los, dass man sie für andere identifiziert und diesen auftischt. *** hat mich schliesslich auch mit einer Frage aus der Reserve gelockt. Jedenfalls gälte es m.E., sich bei der Wahl der Mittel stets zu fragen: „Wie bringe ich Menschen dazu, sich in ihren Vorurteilen (und das kann nur heissen: in ihrem Beweggrund, nicht selbst urteilen zu wollen, was ja das Vorhandensein von Vorurteilen erst ermöglicht) selbst fragwürdig zu werden?“
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