Sonntag, 4. Dezember 2011

Die FDP, die Liberalen und Wir

(Publiziert auf der Online-Plattform "Infosperber", 7. Dezember 2011, gekürzte Fassungen in der Basellandschaftlichen Zeitung vom 10. Dezember 2011 und weiteren Printmedien)

Die Erbschaftssteuer ist eine liberale Steuer. Sie müsste also ganz im Sinne der FDP sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. Was macht eigentlich Solidarität auch für uns „Schwache“ so schwierig?

Christliche und linke Parteien verlangen mit einer Volksinitiative die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer. Erwartet werden Einnahmen von 3 Milliarden Franken. 2 Milliarden Franken sollen in die AHV fliessen, eine Milliarde an die Kantone. Die kantonalen Erbschafts- und Schenkungssteuern (insgesamt ca. 800 Millionen Franken) würden im Gegenzug wegfallen.

Die Erbschaftssteuer ist nicht nur ein christliches und linkes, sondern auch ein urliberales Anliegen. Sie müsste also ganz im Sinne der FDP sein. Denn mit der Erbschaftssteuer wird nicht Leistung besteuert, sondern pures Glück. Geburtsprivilegien wurden mit der Französischen Revolution abgeschafft. Der Liberalismus sieht alle Menschen als von Geburt an gleich und frei. Die Vererbung von Grossvermögen unterläuft dieses Prinzip, denn mit ihnen wird auch Macht weitervererbt und angereichert. Von den 300 reichsten Schweizern ist die Hälfte durch Erbschaften reich geworden. Mittlerweile besitzen 3 Prozent der privaten Steuerpflichtigen gleich viel wie die restlichen 97 Prozent. Es droht eine Refeudalisierung der Schweiz, ein Rückfall ins vor-vorletzte Jahrhundert.

Unter einer Konzentration von Reichtum leidet nicht nur die Chancengleichheit und die Demokratie, sondern auch unsere Leistungsgesellschaft. Studien zeigen, dass sich Länder mit hoher Ungleichheit schlechter entwickeln als Länder mit weniger Ungleichheit. Noch weniger Gleichheit als in der Schweiz gibt es nur noch in Singapur und Namibia. Singapur ist wie die Schweiz eine Oase für Steuerfluchtgelder, und der Druck auf solche Steueroasen wächst – und zwar zu recht. Haben wir eigentlich noch die richtige Geschäftsstrategie?

Das Mantra der Geldaristokraten und ihrer neoliberalen Günstlinge lautet, Freiheit werde immer nur vom Staat bedroht. Davon, dass auch private Macht die Freiheit bedroht, und dass der Staat die Freiheit von uns weniger Mächtigen überhaupt erst ermöglicht, ist nie die Rede. Der Staat soll nicht neue Steuern erheben, sondern noch mehr sparen, heisst es. Gespart werden soll bei der „aufgeblähten Sozialindustrie“, den „Scheininvaliden“, beim „aus den Fugen geratenen Erziehungswesen“ und bei den „Scheinasylanten“ sowieso. Dass dort auch Missstände herrschen können, sei nicht in Abrede gestellt. Auffällig aber ist, dass Sparübungen so oft auf Kosten der Armen, der Kranken, der Kinder oder der Flüchtlinge gehen sollen, also bei den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft ansetzen.

Offensichtlich genügen einfachste sprachliche Manöver, um unser Gewissen zu beruhigen, wenn es einmal mehr die Schwächeren treffen soll. Wir machen nämlich gerne mit, denn es befreit nicht nur die Mächtigen von uns Schwachen, sondern auch und gerade uns selbst, wenn wir gegen noch Schwächere losgelassen werden. Wovon?

Darüber wird viel, aber oft zu wenig radikal nachgedacht. Eine in der Denktradition Heideggers liegende Herangehensweise könnte weiterhelfen. Gegen Schwache kann man erst vorgehen, wenn man sie verachtet. Man muss zuerst lernen, in ihnen (wenn auch nicht ebenbürtige, so doch) egoistische Konkurrenten zu sehen. Als Faule, Kriminelle oder Profiteure erscheinen Schwache als solche, die sich schon selbst zu helfen wissen. Weil Schwache so zugleich als Starke erscheinen, bedürfen sie nicht unseres Mitgefühls, welches Schwache in unseren Augen nicht nur aufrichtet, sondern uns im selben Zuge – und hier liegt der Hund wohl begraben – immer auch unser eigenes, existentielles Schwach-Sein offenbart.

Denn erst mitfühlend erkennen wir, was wir normalerweise gar nicht wahrnehmen und wahrnehmen wollen: Dass und inwieweit unserem Handeln das stetige Bemühen zugrunde liegt, grösser und stärker zu erscheinen, als wir sind. Mitfühlend kann man die hoffnungslose Vergeblichkeit, die fatalen Folgen für andere und uns selbst, die enorme, Wirklichkeit erzeugende Tragweite und die tiefe seelische Ursache dieses Bemühens nicht mehr verdrängen, da im Mitfühlen oder Mitleiden gerade das Gegenteil, nämlich ein Zulassen von Bewusstsein zum Ausdruck kommt. Erst mit diesem Zulassen von Bewusstsein erkennen wir Menschen als wesentlich Gleiche und Freie. Wir erkennen, dass Menschen am je eigenen Dasein auf eine wesentlich gleiche Weise leiden, gleich ins je eigene Leben freigesetzt wurden und dem je eigenen, unentrinnbaren Schicksal gleich ausgeliefert sind. Wir erkennen uns in einem existentiellen Sinne als Verlierer.

Um uns selbst nicht als Verlierer sehen zu müssen, machen wir andere zu Verlierern. Das wirkt befreiend, aber genau dadurch werden wir nicht nur unfrei, sondern letztlich auch beziehungsunfähig. Mächtige machen sich nur unsere eigene Bereitschaft zur Selbstüberhöhung zunutze, welche sich aus dem Zusammenspiel von Bewusstsein, halbbewusster Selbsttäuschung darüber, was wir eigentlich ohne weiteres erkennen, und instinktiver Gefahrenabwehr ergibt. Indem sie Feindbilder liefern oder Menschen in bereits vorhandenen Vorurteilen bestärken, sorgen Mächtige dafür, dass wir Schwächeren uns gegenseitig gering achten und dadurch selbst in Schach halten.

Wir müssen endlich lernen, solche Selbsttäuschungsmanöver zu durchschauen – auch im Interesse der Reichen. Denn das Schicksal des Planeten ist auch das Schicksal ihrer Kinder. Umlernen beginnt in der Schule. Die Schule muss unsere Kinder zu einem bewussten Umgang mit dem Leben befähigen, nicht zu einem blinden Konkurrenzkampf. Wahrzunehmen, wo Menschen verführt werden, und weshalb sich Menschen so leicht verführen lassen, will gelernt sein. Der Allgemeinbildung, der Staatsbürgerkunde, der Medienkompetenz, dem Fach „Religionen und Kulturen“ und überhaupt den als „nicht nützlich“ belächelten geisteswissenschaftlichen Fächern muss eine viel grössere Bedeutung zukommen. Der Philosoph Martin Heidegger sagte einmal, „Wissenschaft denkt nicht“. Er meinte damit, dass uns der naturwissenschaftlich-technische Ansatz bei den wirklich entscheidenden Fragen nicht weiterhilft.

Umlernen müssen wir aber auch im Alltag. Die Frage, wohin eine wachsende Entsolidarisierung führen kann, betrifft uns alle. Verteilfragen müssen deshalb endlich wieder gestellt werden dürfen, ohne reflexartig als Neider hingestellt zu werden. Sie lassen sich aufgrund der wachsenden Rohstoffknappheit ohnehin nicht ewig hinausschieben. Mit der Schuldenwirtschaft geschieht aber genau das: Wir verschieben unangenehme Verteilfragen auf die nächsten Generationen.

Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen, heisst es in der Präambel unserer Bundesverfassung, einem Gesellschaftsvertrag, den wir mutigen Liberalen des 19. Jahrhunderts zu verdanken haben. Er ist nur so viel wert, wie wir ihn auch leben. Der FDP fehlen heute die mutigen Liberalen. Dadurch, dass sie den Geist der Aufklärung nicht mehr atmen, sondern Menschen in ihren Vorurteilen bestärken, machen sich Freisinnige selbst überflüssig.

Offenbar geht es den heutigen, real existierenden Liberalen, nur noch darum, Menschen klein und abhängig zu halten. Unsere Angst vor dem Arbeitsplatzverlust kommt ihnen dabei wie gewohnt gelegen: „Mit der Erbschaftssteuer wollen die Linken Ihr Portemonnaie plündern und zerstören dabei Unternehmen und Arbeitsplätze“, heisst es in ihrem Parteiblatt. Mit solchen und ähnlich hohlen Phrasen können sie aber gegen eine weitaus „bessere“ Konkurrenz im rechten Lager nicht punkten.

Frage zum Schluss und am Rande: Entspricht „Ihr“ Portemonnaie schon den Vorstellungen „Ihrer“ FDP? Dann herzlichen Glückwunsch und willkommen im Club! Für uns Nicht-Mehrfach-Millionäre stellt sich hingegen die Frage: Wessen Interessen vertritt diese Partei eigentlich noch? Denn Erbschaften unter zwei Millionen Franken sollen ja steuerfrei bleiben.

Matthias Bertschinger, Jurist, Gemeinderat (Grüne) in Nunningen/SO.

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