Sonntag, 18. Dezember 2011

Selbstbetrug

Wir sind Leben, das sich selbst erkennt. In diesem Erkennen liegt nicht nur ein Erstaunen, sondern auch ein Erschrecken, das uns Menschen in der Regel heillos überfordert. Wir Menschen neigen deshalb dazu, in selbstbetrügerischer Weise durch Instrumentalisierung unseres Geistes diesen selbst von seinem eigenen Erkennen abzulenken, etwa vermittels sog. Rationalisierungen. Evolutionsbiologische Theorien wie diejenige von Robert Trivers über den Selbstbetrug (ZEIT Nr. 50, S. 41f.), welche diese ontologische Dimension des Erkennens nicht mitberücksichtigen, greifen nicht nur zu kurz, sondern sind – welche Ironie! – selbst Ausdruck eines Selbstbetrugs, nämlich des oben beschriebenen, viel fundamentaleren. In solchen Rationalisierungen drückt sich das Erkennen selbst als Selbstbetrug aus.
Unsere „geistlose“, von Rationalisierungen geprägte Zeit erweist sich bei näherer Betrachtung nicht etwa als Folge der Abwesenheit von Geist, sondern als Folge einer unvermindert intensiven Anwesenheit von Geist in einem anderen, diesen selbst verhüllenden Gewand. Was für eine erstaunliche Blüte hat die Evolution hier getrieben! Gemeint ist aber eben nicht der Geist als bloßes Mittel, dessen sich der Mensch bedient, und als welcher er aus evolutionsbiologischer Sicht erscheint, sondern Geist als aus sich selbst heraus erkennendes Erkennen, der sich umgekehrt des Menschen als Werkzeug bedient – sei es, indem er sich verbirgt, was uns Menschen in der Illusion wiegt, Herr über unser eigenes Handeln zu sein, oder sei es, indem er sich entbirgt, wodurch uns nebst unseren beängstigenden Grenzen auch unsere Freiheit offenbart würde. Ob diese erstaunliche, Blüte der Evolution, die sich in der Regel verbergend entbirgt, uns Menschen auch zum Überleben befähigt?

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