Einige Gedanken aus daseinsanalytischer Sicht
Referat von Matthias Bertschinger anlässlich der Podiumsdiskussion „Chancen und Risiken der direkten Demokratie in der Schweiz“ vom 28. Mai 2011 mit Andreas Gross und Remo Ankli in Breitenbach/SO.
Wenn wir heute von einer Krise der Demokratie sprechen, geht es um zwei Dinge:
Erstens: Darum, dass Demokratie instrumentalisiert wird für Ausgrenzung – z.B. zum Schüren von Fremdenfeindlichkeit.
Und zweitens darum, dass die Demokratie durch diesen Missbrauch auch selbst Schaden nimmt.
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Ich möchte zuerst versuchen, einen Eindruck von der Komplexität der Thematik zu vermitteln:
In einem ersten Schritt könnte man sich fragen, wie Ausgrenzungsreflexe anthropologisch funktionieren, und was gegen diese getan werden kann.
Dann könnte man aufzeigen, wie die Demokratie von Populisten zur Verstärkung von Ausgrenzungsreflexen instrumentalisiert wird, und welche (zusätzlichen) Gefahren sich daraus ergeben –
erstens für den Zusammenhalt und somit die Sicherheit unserer Gesellschaft (hier gälte es dann aufzuzeigen, dass die Welt nicht durch das Schüren von Ausgrenzungs- und Ausschaffungsreflexen, sondern im Gegenteil durch mehr Kooperation sicherer wird).
Und zweitens: dass sich daraus auch eine Gefahr für das Funktionieren der Demokratie selbst ergibt (was dann der Fall ist, wenn Volksinitiativen, die unsere Ausgrenzungsreflexe bedienen, auch noch unsere Grundrechte verletzen.)
In einem dritten Schritt könnte man aufzeigen, dass die Demokratie tatsächlich auf Werten beruht, wie sie in unseren Grundrechten formuliert sind, und zwar
in einem juristischen, also technischen Sinne (dass also Demokratie ohne Grundrechte nicht funktioniert)
und dass die Demokratie auch von ihrer Idee her auf Werten beruht, wie sie in unseren Grundrechten formuliert sind (dass also Demokratie ohne diese Werte nicht nur nicht funktioniert, sondern auch gar keinen Sinn ergibt.)
In einem vierten Schritt könnte man dann darlegen, wie diese Werte geschützt oder gestärkt werden könnten. Hierbei könnte man ebenfalls zwischen
einer juristisch-technischen Stossrichtung unterscheiden, die zum Ziel hat, unsere Grundrechte rechtlich besser zu schützen
und einer grundlegenderen Stossrichtung, welche zum Ergebnis hätte, dass der Aufklärung und den Geisteswissenschaften wieder ein viel grösserer Stellenwert einzuräumen ist in unserer Gesellschaft.
Schliesslich könnte man sich fragen, ob die direkte Demokratie vielleicht eine besonders geeignete Einrichtung ist, um Demokratie zu üben, um nicht ganz zu vergessen, wem sie dient.
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Ich möchte nur einen einzigen Punkt näher beleuchten in meinem Referat, nämlich weshalb Demokratie ohne Grundrechte gar keinen Sinn ergibt.
Dafür muss ich aber vorher kurz etwas zur Logik von Ausgrenzungsreflexen sagen.
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Ausgrenzungsreflexe entstehen, wenn Bedrohungen, etwa in Gestalt von Umweltkrisen oder Arbeitslosigkeit, zunehmen.
Solche äusseren Bedrohungen erinnern uns auch an eine viel grundlegendere „innere“ Bedrohung, welche in unserem Dasein selbst liegt: Sie wecken unser Wissen um unsere Sterblichkeit.
Diese bedrohliche Seite unseres Daseins vermögen wir in normalen Zeiten mit Hilfe des „Courant normal“ zu überspielen und zu verdrängen (oder durch die „Aufrechterhaltung des Betriebs“, wie Heidegger dem sagt).
Wenn wir dies in Krisenzeiten nun nicht mehr so ohne weiteres können, kann das auch positive Seiten haben. Ich erwähne nur eine: Wir realisieren, dass wir auf unserem Planeten alle im gleichen Boot sitzen und beginnen vielleicht, unsere gemeinsamen Probleme endlich zu lösen, und zwar gemeinsam.
Bedenklich ist aber, dass wir entwicklungsgeschichtlich anscheinend so veranlagt sind, dass wir auf wachsende Bedrohung lieber mit Abwehr reagieren anstatt zu überlegen.
Wir rotten uns bei Gefahr im engeren Umkreis zusammen, und setzen unser archaisches, Halt-stiftende Wir-Gefühl dem Abgründigen einer wachsenden Bedrohung entgegen. Das geht aber nur, wenn wir uns gleichzeitig von Gruppen im weiteren Umkreis und deren Angehörigen abgrenzen und das Bedrohliche in diese projizieren.
Dadurch geraten wir aber in Teufels Küche, denn das Ergebnis ist wachsende Feindseligkeit, was bestehende Probleme nur noch verstärkt oder neue Probleme schafft.
Das dümmste, was wir in Krisenzeiten also tun können, ist ein unreflektiertes Hochhalten unserer Heimat. „Unsere direkte Demokratie“ wird übrigens genauso wie unsere Heimat oder seinerzeit die Armee längst zu einem unantastbaren, Identität stiftenden Mythos stilisiert, dabei könnten wir von anderen, eben nicht nur sog. halbbatzigen, sondern im Gegenteil modernen Demokratien, in vielerlei Hinsicht lernen.
Wenn wir aus Angst vor Bedrohung in die Abwehr flüchten, werden wir also nicht nur kooperationsunfähig, sondern auch noch lern- und reformunfähig.
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Die direkte Demokratie bietet eine besonders gute Möglichkeit für Demagogen, um gegen Fremde und Fremdes zu hetzen. Konrad Adenauer hat deshalb einmal gesagt, die direkte Demokratie sei ein Geschenk an Demagogen.
In einer direkten Demokratie müssten Grundrechte daher rechtlich besonders gut geschützt werden – besser als in einer indirekten Demokratie.
Doch das genaue Gegenteil ist der Fall.
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Um zu veranschaulichen, weshalb eine Demokratie ohne Grundrechte rein technisch nicht funktioniert, und deshalb das Volk nicht alles dürfen kann, behelfe ich mir gerne eines simplen Beispiels:
Wenn in einer eidgenössischen Volksabstimmung ganz „demokratisch“ beschlossen würde, den Schwarzbuben das Stimmrecht zu entziehen, wäre die nächste Abstimmung nicht mehr demokratisch, weil nicht mehr auf einem Mehrheitsentscheid sämtlicher Schweizerinnen und Schweizer beruhend.
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Jetzt aber zur Erklärung, weshalb die Demokratie ohne die Werte, welche in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, ohne das Hochhalten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, nicht nur technisch nicht funktioniert, wie gerade gezeigt, sondern auch gar keinen Sinn ergibt.
In der Natur gilt das Recht des Stärkeren. Auch wenn Tiere ebenfalls Mitgefühl kennen (wie wir etwa von Jörg Hess wissen, dem Primatenforscher) setzt der Stärkere sich durch, sobald er dies will.
Wenn ein Mächtiger tut und lässt, was ihm beliebt, muss er jedenfalls keinen Gedanken verschwenden an die Frage, was Freiheit ist. Ihm genügt das Naturgesetz. Wer die Respektierung seiner Freiheit fordert (was mehr ist als zu versuchen, einen Stärkeren zu bezwingen, zu beschwichtigen oder sich diesem zu entziehen) stellt sich gegen dieses Naturgesetz des Stärkeren.
Aber aus welcher Anwandlung, und mit welchem Recht?
Ich meine aus der Erkenntnis, dass der Mensch (ungeachtet der vielen Fehlschlüsse, die daraus gezogen werden) eben nicht nur Teil der Natur ist, sondern sich gleichzeitig über diese erhebt – und zwar durch sein Bewusstsein.
Nun muss ich mir natürlich die Frage gefallen lassen, weshalb das Bewusstsein den Menschen denn über das Tierreich erheben soll. Ist Bewusstsein für den Menschen nicht, was dem Tiger seine Reisszähne, also einfach ein Werkzeug, um zu überleben?
Ich meine nein, und zwar mit Blick auf unser mehr oder weniger verdrängte Wissen um unser „Sein-zum-Tode“, mit Blick auf unser Wissen um unsere Sterblichkeit.
Dieses Wissen scheint mir jedenfalls alles andere als nützlich, um sich durchs Leben zu schlagen. Aber das ist nicht der springende Punkt, sondern, dass das Erkennen seines „Seins-zum-Tode“ wohl auch der Schlüssel ist zur Erkenntnis der tieferen Bedeutung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und letztlich auch Demokratie:
Dort wo es uns nämlich gelingt, uns unserer Vergänglichkeit zu stellen, anstatt dauernd vor diesem Trauma zu fliehen, also von der Daueranstrengung des Verdrängens abzulassen, loszulassen und unser Bewusstsein dadurch zu befreien, erkennen wir, wie viel von unserem Tun und Lassen, oder wie wir Dinge tun, massgeblich dem Zweck dient, uns über unsere eigene Nichtigkeit hinwegzutäuschen.
Wir erkennen, wie unser Bewusstsein unablässig damit beschäftigt ist, sich diese dunklen Bewusstseinsinhalte unbewusst zu machen, und sich dadurch selbst gefangen hält.
Wir erkennen, wie unser Bewusstsein ständig vor sich selbst flieht, und sich dessen folglich auch selten bewusst ist.
Das menschliche Bewusstsein hat unzählige Techniken solcher Selbsttäuschungsmanöver entwickelt, und bedient sich dafür auch seiner Triebstruktur, was den Menschen noch tierischer machen kann als jedes Tier.
Er kann z.B. die Augen zumachen, wie kleine Kinder bei drohender Gefahr.
Oder er kann vergleichend seitwärts blicken, um sich seiner Halt-bietenden Position im schützenden Gruppengefüge zu vergewissern, stets darauf bedacht, diese Position zu behaupten und noch auszubauen, um so nicht vorwärts blicken zu müssen in eine Zukunft, von welcher Gefahr droht, so oder so (Dieter Thomä hat kürzlich in der NZZ darüber geschrieben).
J.-P. Sartre beschreibt auch eine solche Technik und nennt sie „la mauvaise foi“, ein Abwiegeln, ein Beschwichtigen.
Gewisse sog. psychische „Krankheiten“ werden plötzlich begreifbar als eine solche Technik der Selbsttäuschung, ganz zu schweigen von all den neurotischen Verhaltensweisen, welche längst normal sind in unserer Gesellschaft oder sogar als vorbildlich gelten, von Süchten bis hin zum Sparzwang und Putzwahn, welche letztlich alle jenem Ausblenden der eigenen Sterblichkeit, Nichtigkeit und Ohnmacht dienen.
Sogar sog. böse Menschen erscheinen (ich verweise auf das neue Buch von Terry Eagleton) als Menschen, welche am Schicksal ihres unausweichlichen Scheiterns verzweifeln und deshalb den verzweifelten Versuch unternehmen, ihre eigene Nichtigkeit zu vernichten, indem sie diese auf andere projizieren, um sie dort zu bekämpfen.
Aber was der „Böse“ eigentlich sucht, nämlich Befreiung von seiner Wissenslast bzw. von seinem Wissen als Last, findet er so nie.
Mit dieser Offenheit gegen sich selbst wird also selbst „das Böse“ verstehbar (welches wir so gerne als unerklärlich erklären, um es nicht als eine mögliche Technik der Selbsttäuschung auch in uns selbst entdecken zu müssen).
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In den Momenten also, wo unserem Bewusstsein dieser Befreiungsakt gelingt, erkennen wir im Mitmenschen dasselbe verängstigte Kind, welches wir selbst sind:
Ein traumatisiertes Wesen, das genauso wie wir selbst (vermittels seiner individuellen Technik) vor seinem Schicksal flieht, weil es von diesem komplett überfordert ist.
Was wir hier erhalten ist einen Begriff von verstehendem Mitleid (nicht von Mitleidigkeit, sondern einer Weise des Erkennens).
Insoweit wir uns unserer Sterblichkeit stellen und diesen Tod innerhalb des Lebens annehmen, was Jesus am Kreuz symbolisiert, wird „Auferstehung“ möglich, ein „zweites“ Leben, in dem man anders erkennt angesichts des Todes, vor welchem die Menschen fliehen, weil sie sich „Erlösung vom Tode“ ja verständlicherweise in der Abwendung vom Tod erhoffen, und gerade dadurch nicht finden.
(Keine Ostern ohne Karfreitag!)
Wer also Erlösung oder Glück stets von aussen erwartet, von Heilsbringern oder Volksverführern, oder wie der sog. „Böse“ von seinen Opfern oder der Süchtige vom Suchtgegenstand, wird nicht erkennen, was mit Erlösung gemeint ist: Nämlich Freiheit.
Erst wenn wir uns unseren beschränkten Möglichkeiten stellen, werden wir fähig, unsere tatsächlichen Möglichkeiten zu erkennen und zu ergreifen – also Antwort zu geben auf unser Dasein – nicht als eines, wie wir es uns wünschen und erhoffen, sondern wie es im Hier und Jetzt als tatsächliches erscheint und als solches ver-antwortet werden will.
Anderen dieselbe Freiheit, dieselben Chancen und dasselbe Stimmrecht einzuräumen, wie mir selbst, ergibt sich aus der Erkenntnis der fundamentalen Gleichheit aller Menschen angesichts ihres Menschseins, angesichts der heillosen Überforderung, welche das Menschsein an sie stellt, angesichts dieser ungeheuerlichen Zumutung und ihrer Kehrseite: der Freiheit.
Insoweit der Mensch zwischen den beiden Polen Flucht vor Erkenntnis und Erkenntnis umherirrt, ist er Mensch.
Es ist diese Sicht auf den Menschen, welche mich Respekt vor den Mitmenschen lehrt. Vor diesem Hintergrund erscheint das Zugeständnis derselben Freiheit und Rechte an meine Mitmenschen nicht als milde Gabe verweichlichter Gutmenschen an die Schwachen, sondern als Zugeständnis meines Menschseins an mich selbst.
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Ich habe die mögliche Bedeutung des Christentums für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hervorgehoben, statt wie üblich die Aufklärung. In beiden Fällen aber gilt, dass ich die Möglichkeit der Bewusstwerdung und die Fähigkeit zu Demokratie für eine anthropologische, also allen Menschen gemeinsame Fähigkeit halte, und nicht nur für eine Fähigkeit von Menschen aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis. Die Fähigkeit zum Höchsten, was ein Mensch leisten kann, ist allen Menschen gemein: Die Fähigkeit zu Aufrichtigkeit gegen sich selbst.
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Ganz kurz noch zur Sicherung unserer Demokratie: Unsere Demokratie nur als reines Verfahren oder als sinnentleerten Mythos schützen zu wollen, also nur mit juristischen Mitteln, ist bereits aus folgendem Grund problematisch:
Unser solothurner FDP-Nationalrat Kurt Fluri hat kurz nach der Minarettinitiative in der NZZ folgendes geschrieben: „Schranken können rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklungen zwar behindern, aber notfalls nicht verhindern“.
Was heisst das? Es heisst, dass eine Demokratie ohne Kultur nicht überlebensfähig ist – da kann man regeln und juristische Hürden einbauen, soviel man will. Demokratie setzt eine gelebte demokratische Kultur voraus, eine Kultur der Aufklärung und des Nachdenkens.
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Die direkte Demokratie bietet öfters Anlass als die indirekte, sich mit den Aufgaben von Staat und Gesellschaft zu befassen.
Obwohl – auch und gerade bei uns – versucht wird, den „Staat“ gegen „die Freiheit“ auszuspielen, kommt es vielleicht durch eine intensiv gelebte demokratische Kultur in einer direkten Demokratie weniger schnell soweit, dass sich das Volk gegen den Staat richtet, weil es dort doch noch etwas schwieriger ist auszublenden, dass das Volk dieser Staat ja selbst ist.Umgekehrt würde ein besserer juristischer Schutz unserer Grundrechte nicht zu einem Verlust von Demokratie führen. Ein zureichender rechtlicher Schutz der Grundrechte, sei es durch Normen oder ein Verfassungsgericht, ist unverzichtbar in einer modernen Demokratie und in anderen Demokratien längst selbstverständlich.
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