Donnerstag, 30. Juni 2011

Heimatlos – Krise und Chancen der bürgerlichen Mitte

Beitrag zum Buch "Über den Herbst hinaus"

Das Erstarken der Rechtspopulisten hat die Bürgerlichen verfrachtet. Die alte Mitte ist aus dem Lot gefallen. Viele Bürgerliche erscheinen wie gemässigte Rechte. Doch eine wirkliche moderne Mitte wäre was anderes.
Auch dass man die SP neuerdings als „Pol-Partei“ bezeichnet, ist Folge der Radikalisierung im rechten, und nicht im linken politischen Spektrum. Die Bürgerlichen politisieren im Windschatten der Rechtspopulisten. Sie sind wie diese vor allem dem Machterhalt und der Besitzstandwahrung verpflichtet.
Diese Position ausserhalb des Schussfeldes der von der SVP absorbierten Linken wäre für die Bürgerlichen eigentlich bequem, würden sie sich dadurch nicht selbst überflüssig machen. Die Chancen der Bürgerlichen liegen nicht darin, sich einfach wieder auf die urliberale Chancengleichheit oder die christliche Nächstenliebe (säkularisiert: Gerechtigkeit) zu besinnen, denn diese Werte besetzt längst die Linke. Die Bürgerlichen sind so heimatlos geworden und wirken entsprechend desorientiert.
Ihre Krise ist die Krise der Wettbewerbsideologie, an welcher sie festhalten. Doch immer mehr Menschen erkennen sich als Verlierer eines radikalen Wirtschaftswettbewerbs. Selbst die Wirtschaft scheint langsam hellhörig zu werden. Das falsche Paradigma der Fremdmotivation macht zwar noch immer Schule, allmählich setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass nicht allein äussere Anreize, sondern innere Begeisterung Mitarbeiter motiviert.

Doch Kritik an herrschenden Ideologien richtet sich auch gegen eigene Weltbilder und Wunschwahrheiten. Deshalb glauben Menschen an das System und stützen es. Diese Systemblindheit nützen Rechtspopulisten geschickt und skrupellos aus, indem sie für die Frustrationen der Verlierer Ventile anbieten. Auf Kosten von Linken, Scheinbürgerlichen, Fremden, Europa und überhaupt allem, womit man sich nicht identifizieren will, kann so Dampf abgelassen werden. Das System selbst, Hauptursache der Frustrationen, wird dadurch vor Anfechtungen geschützt.
Der Preis dafür ist hoch: Verführte und Verführer spalten die Gesellschaft: diese aus Macht- und Geldgier, jene aus einer Mischung aus Blindheit und Bequemlichkeit. „Die Politik“ oder „der Staat“ werden als korrupt und bevormundend verteufelt, „unsere direkte Demokratie“ oder „die Schweiz“ mystifiziert und glorifiziert. Gesellschaft als Ort von Freiheit und Fremdbestimmung erscheint nicht mehr als komplexe Realität, in welcher sich Freiheit (Selbstbestimmung) und Fremdbestimmung vielfältig verschränken, sondern wird verkürzt und verabsolutiert, erscheint als ideologische Abspaltung – je nachdem entweder als Heilige oder als Hure.

Wettbewerbsideologie
Das Dogma der Wettbewerbsideologie lautet: „Was einem selbst nützt, nützt schliesslich allen, also auch den Schwachen“. Wie stark wir glauben anstatt zu zweifeln, verdeutlicht folgende Zeitungsmeldung:

„Verhält sich ein Fisch egoistisch, kann das dem ganzen Schwarm nützen. Das konnten Biologen jetzt nachweisen. Laut den Forschern lassen sich die Ergebnisse bis zu einem gewissen Grad auch auf uns Menschen übertragen – und gezielt nutzen, zum Beispiel im Bereich Umweltschutz: Hätte klimafreundliches Handeln einen direkten Nutzen, etwa durch Steuereinsparungen, dann würden viele aus egoistischen Gründen zu Klimaschützern – was der ganzen Gesellschaft zugute käme.“

Diese Meldung aus „20 Minuten“ bringt uns nicht sonderlich ins Grübeln. Doch was uns stutzig machen müsste, steht zwischen den Zeilen: Wie verbissen Naturwissenschaftler offenbar das Unmögliche versuchen, nämlich den inneren Widerspruch der Wettbewerbsideologie aufzulösen. Denn Wettbewerb nützt den Schwachen prinzipiell nie – dies ist ja gerade sein Zweck! Ideologie ist, wenn man trotzdem glaubt.

Natürlich liegt dem Dogma der Wettbewerbsideologie der Gedanke zugrunde, Wettbewerb erzeuge insgesamt ein Mehr an Nutzen, von welchem auch die Schwachen profitieren. Letztlich schafft Wettbewerb keinen Mehrnutzen. Aus der Physik weiss man: Natur gleicht alles aus. Der Mensch greift in dieses Gleichgewicht lenkend ein, sollte dies aber ebenfalls ausgleichend, sprich kostenbewusst tun. Denn Nutzen erzielt der Wettbewerb immer entweder auf Kosten der Umwelt und der Zukunft – also auf Kosten, die noch auf uns zukommen und die man nicht messen will – oder auf Kosten menschlicher Würde oder unter Inkaufnahme kreatürlichen Leids – also auf Kosten, die man nicht messen kann.

Das Ideologische an der Ideologie ist der Glaube, in einer Formel liessen sich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf den Menschen verbinden: Eine, die misst und definiert, wer der Stärkere ist, und eine, die menschliche Grösse ermisst. Die Naturwissenschaft vermag nur eine Dimension des Menschen zu erfassen, da der messende Blick die Welt auf eine Dimension reduzieren muss, um Messbarkeit überhaupt herzustellen.
Die andere Dimension ist das Denken selbst. Denken ist wesentlich Begegnen. Solidarität mit den Schwachen ist Ausdruck und Notwendigkeit des Denkens. Wettbewerb zur massgebenden Steuerungskraft einer Gesellschaft zu machen, ist also nicht nur deshalb falsch, weil er Verlierer erzeugt, sondern weil er den Menschen reduziert. Er entwürdigt auch die Gewinner. Der Fisch ist in seinem Element. Der Mensch aber lebt in zwei Sphären, ist wesentlich heimatlos und offen. Er befindet sich anders in der Schwebe. Erst dies aber macht ihn zu einem „ganzen“ Menschen.

Chancen der bürgerlichen Mitte
Die Chance der bürgerlichen Mitte liegt im Bekenntnis zu diesem „ganzen“ Menschen. Die zukünftige Trennlinie in der Politik verläuft zwischen Handlungswilligen, die dem „ganzen“ Menschen verpflichtet sind, und Verhinderern, welche an einem funktionalistischen Bild des Menschen festhalten, wo Freiheit, Verantwortung und Würde gar keinen Platz haben.
Die Finanzkrise war wohl nur der Vorgeschmack auf eine kommende Krise mit noch tiefer greifenden Folgen. Welcher Art diese Folgen sein werden und wie geordnet der zu erwartende Wandel verlaufen wird, hängt wesentlich davon ab, wie schnell und konsequent sich die Mitte-Parteien zum Handeln durchringen, wie schnell und vorbehaltlos sie Interessenspolitik als ausschliesslichen Dienst am Stärkeren ablehnen und Politik wieder als das betreiben, was sie sein sollte: Dienst aus Verantwortung und Dienst an der Freiheit, welche alles andere ist als Egoismus. Eine Politik aber auch, welche nicht ebenfalls gläubig wird, indem sie meint, Egoismus liesse sich aus der Welt schaffen. Eine Politik also, die den Wettbewerb als durchaus nützlichen Regelungsmechanismus richtig einzusetzen weiss, und nicht meint, absolut auf ihn verzichten zu können.
Sofern die Bürgerlichen den Absatz aus der Präambel unserer Verfassung beherzigen, wonach sich die Stärke einer Gemeinschaft am Wohl der Schwächsten bemisst, liegt ihre Chance in der Betonung eines besonnenen Wegs zum gemeinsamen Ziel und in einer Vermittlerrolle zwischen den Handlungswilligen und denjenigen, die sich entweder verzweifelt oder bequem am Bisherigen festklammern.
Eine Koalition der Willigen fordert die Handlungsfähigkeit zurück, welche die Politik im Standort- und Steuerwettbewerb seit den 90er-Jahren an die Wirtschaft verloren hat. Will sich die bürgerliche Mitte dieser Koalition anschliessen, muss sie sich vom Besitzstandsdenken verabschieden, welches sich mit der SVP gleich einem Geist, den man gerufen hat und nun nicht mehr los wird, längst verselbständigt hat und ausser Kontrolle geraten ist.

Alternativlos: Aufklärung
Die Aufklärung ist nicht nur eine Zeitepoche, sondern muss von jeder Generation neu geleistet werden. Sie erfordert mehr als 20 Minuten und bedarf des „ganzen“ Menschen. Gegen Ideologie hilft weder Physik noch Biologie, sondern nur Ideologiekritik, die Befähigung zur Kritik, die an allen Schulen in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Aufklärung bedarf eines zündenden Funkens. Einmal entzündet, kann sie zu einer Leidenschaft werden, die angesichts des spezifisch menschlichen Leidens am Dasein aus sich selbst heraus wächst.

1 Kommentar:

  1. Toller Beitrag! Besonders folgender Abschnitt; <<Doch Kritik an herrschenden Ideologien richtet sich auch gegen eigene Weltbilder und Wunschwahrheiten. Deshalb glauben Menschen an das System und stützen es. Diese Systemblindheit nützen Rechtspopulisten geschickt und skrupellos aus, indem sie für die Frustrationen der Verlierer Ventile anbieten. Auf Kosten von Linken, Scheinbürgerlichen, Fremden, Europa und überhaupt allem, womit man sich nicht identifizieren will, kann so Dampf abgelassen werden. Das System selbst, Hauptursache der Frustrationen, wird dadurch vor Anfechtungen geschützt.<<
    Nie, auch nur Ansatzweise, konnte ich das Problem "Kritik an herrschenden Ideologien" so präzisse, zeitkonform und einfach verständlich formulieren.

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