Donnerstag, 26. Dezember 2013

Mythos "Erfolgsmodell Schweiz"

Newsletter NEBS vom 9. Januar 2014


Offenbar ist man sich über alle Parteigrenzen hinweg einig: Die Personenfreizügigkeit (PFZ) ist grundsätzlich etwas Schlechtes. Für Rechtskonservative gehört die PFZ zur "linken Utopie", ist Bestandteil der unumstösslichen "reinen Lehre". Für Teile der Linken ist sie ein Instrument des Neoliberalismus, Freipass zum Freihandel mit billigem "Humankapital". Alleine schon dieser Widerspruch müsste auf beiden Seiten zu denken geben. Für Teile der Grünen ist die PFZ Ursache von Umweltzerstörung anstatt Armutsmigration Folge fehlender Verteilungsgerechtigkeit. Und für den ganzen Rest ist die PFZ ein notwendiges Übel, eine Kröte, die man schlucken muss, wenn man die "bewährten Bilateralen" nicht gefährden will, die der Schweiz innerhalb des gemeinsamen Rechtsraumes der EU einen Sonderstatus einräumen. Dass die neu gewonnenen Grundfreiheiten der EU, von welchen die PFZ eine ist, ein verteidigungswürdiger Wert an sich sind, und dass ein gemeinsamer Rechtsraum eine langsame Angleichung ungleicher Lebensbedingungen – einer wesentlichen Ursache von Migration! – bezweckt, bleibt athematisch oder wird als "zentralistische Gleichmacherei" diskreditiert.
Den Anti-Isolationisten und ihren Kommunikationsfachleuten sei vorausgesagt: Europapolitische Abstimmungen lassen sich in Zukunft nicht mehr mit PR-Phrasen gewinnen, sondern nur noch, wenn man endlich an der bequemen und destruktiven Lebenslüge rüttelt, die Schweiz würde alles richtig machen und alle anderen – vorab die EU – alles falsch. Anspruch der EU ist es, gemeinsame Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb welcher sich alle EuropäerInnen frei entfalten können (wo bleibt unser konstruktiver Beitrag?). Dabei ist der europäische Integrationsprozess eine Abfolge von Schritten, die in sich noch nicht perfekt sind. Daraus abzuleiten, das Projekt EU sei gescheitert, zeugt von einer überheblichen Verkennung der Situation, die nur eine irrationale Reaktion zur Folge haben kann. Mit anderen Worten: Abstimmungsergebnisse sind nur so gut wie die Sachverhalte, die man ihnen zugrunde legt.

Dienstag, 24. Dezember 2013

"Wissenschaftlich fundierte" PR oder doch besser Nachdenken?


Am 9. Februar geht es nicht nur um die "ökonomistische" (kleinkrämerische) Frage, ob uns die Personenfreizügigkeit mehr kostet als nützt. Es geht jenseits vordergründiger Nützlichkeitserwägungen um die viel grundsätzlichere Frage, wie nachhaltig und vernünftig es ist, sogenannte "eigene Interessen" gegen den Rest der Welt durchzusetzen. Es geht um die Frage, ob wir uns als Teil der Welt begreifen oder nicht. Und um die Frage, inwieweit ein Alleingang uns (und Europa) nicht in einem viel grundsätzlicheren Sinn schadet.
Die gegenwärtige Lage erschwert es, Sinn und Zweck der europäischen und globalen Integration überhaupt zu thematisieren, weil dies einer verbreiteten Befindlichkeit zuwiderläuft, welcher nur Abwehr ("Landesrecht vor Völkerrecht!" etc.) entspricht: "Vor allem in Zeiten ökonomischer Krise entwickeln Nationen aggressive Dynamiken. Sie kündigen Bündnisse auf, revidieren internationale Verträge oder setzen sie außer Kraft", so der österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Doch "in der heutigen, zunehmend vernetzten und verschränkten globalen Situation, ist die Vorstellung, dass eine Nation die Mehrheitsinteressen ihrer Population gegen andere durchsetzen und als so aggressive wie solipsistische Monade ihr 'Glück' finden kann, völlig absurd" (Menasse).
Welche Probleme können Nationen, insbesondere angesichts des Standortwettbewerbs, überhaupt noch alleine lösen? Bräuchte es nicht im Gegenteil mehr Integration, um selbstbestimmt und handlungsfähig ("souverän") zu bleiben oder Gestaltungsmacht zurückzugewinnen? Spitz formuliert und vorausgesetzt, wir wären noch so souverän, wie wir meinen: Bräuchte es nicht eine Abgabe von Souveränität, damit die Menschen souverän bleiben oder Souveränität zurückgewinnen ("geteilte Souveränität")? Auch wenn das auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint?
Die Gegner der Masseneinwanderungsinitiative weichen solchen unangenehmen Fragen aus, weil sich die Leute nicht für sie interessieren oder sie ablehnen: Dies ergab eine wissenschaftliche Erhebung, die der Kampagne von Economiesuisse zugrunde liegt. Doch indem Economiesuisse im Verbund mit den Bürgerlichen und Teilen der Linken nicht thematisiert, welchen Realitäten es sich zu stellen gälte (weil sich die Leute für diese Realitäten nicht interessieren, sie nicht verstehen oder ablehnen), perpetuiert und pflegt Economiesuisse einen Realitätsverlust, gegen welchen anzutreten wäre, wenn man europapolitische Abstimmungen längerfristig gewinnen will.
Wenn man "wissenschaftlich fundierte" PR dem Nachdenken blindlings vorzieht, geht der Schuss früher oder später nach hinten los – womöglich bereits am 9. Februar, Abstimmungsmillionen hin oder her. Wir sollten am 9. Februar "Nein" stimmen, uns aber darüber hinaus endlich freiwillig europapolitischen Grundsatzfragen stellen, die ein "Ja" zur Masseneinwanderungsinitiative unweigerlich aufwerfen und zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion machen würde.

Pharisäer

Basellandschaftliche Zeitung, 28. Dezember 2012

Es sei kein Krieg zwischen Religionen, sagt Pfarrer Möller mit Bilck auf die Zentralafrikanische Republik. Ist dem Pastor ein Licht aufgegangen? Ward ihm endlich kundgetan, dass noch lange kein Krieg zwischen Religionen herrscht, nur weil sich einige Wirrköpfe auf sie berufen? Leider nein: Er meinte, nur eine Religion, nämlich der Islam, bekämpfe die andere, nämlich das Christentum. Das ist, wie wenn man dem Christentum anlasten würde, dass einige evangelikale Wirrköpfe in Uganda Schwule (in Möllers Augen arme Sünderlein) jagen. Was wohl Jesus zu diesem Pharisäer gesagt hätte? Dass uns die bz seine Hasspredigt ausgerechnet an Heiligabend vorsetzt, schlägt dem Fass den Boden aus.

Samstag, 21. Dezember 2013

Es geht um Ausgrenzung

Wochenblatt 2. Januar 2014, Basler Zeitung 13. Januar 2014,


Die Abtreibungsquote korreliert massgeblich mit Schichtzugehörigkeit und Bildung, mit dem Zugang zu Informationen über Verhütungsmethoden. Man könnte daher meinen, den Initianten der Initiative „Abtreibung ist Privatsache“ läge der Aufklärungsunterricht an unseren Schulen am Herzen. Weit gefehlt: 16 der 27 InitiantInnen sitzen auch im Komitee der soeben eingereichten Initiative gegen Sexualerziehung an Kindergärten und Schulen.
Auch ich befürworte Massnahmen, die geeignet sind, die Abtreibungsquote zu reduzieren. Darum geht es den Initianten aber offenbar nicht. Wer Ja sagt zur Initiative „Abtreibung ist Privatsache“, sagt nicht einfach Nein zur Tötung von ungeborenem Leben, wie uns die Initianten weismachen wollen, sondern Ja zur Stigmatisierung der ungewollt Schwangeren als verantwortungslose Subjekte und einer weiteren Entsolidarisierung der Gesellschaft. Vonwegen Gewissensfrage: Es geht um Ausgrenzung – einmal mehr.

Sonntag, 15. Dezember 2013

Glühende Anhänger

Alan Cassidy meint, der "glühende Anhänger der EU" Robert Menasse liege falsch. Aber was ist falsch an der Feststellung, dass Zuwanderung mit den ökonomischen und sozialen Unterschieden zwischen den Nationalstaaten zu tun hat, und dass man die "Probleme", die sich aus diesen Unterschieden ergeben, letztlich nur gemeinsam auf transnationaler Ebene lösen kann? Ist die Personenfreizügigkeit womöglich Teil der Lösung (die ihrerseits flankierende Massnahmen erfordert), um besagtes Ungleichgewicht auf ein erträgliches Mass abzusenken, und nicht das eigentliche Problem? Weshalb werden solche Fragen in den Medien kaum thematisiert? Weil die EU alles falsch machen muss?
Ja, noch spielt die Solidarität nur innerhalb nationaler Grenzen, wie Cassidy richtig bemerkt. Nur ist diese Bemerkung eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denn Mitschuld an nationalistischer Blickfeldverengung tragen Journalisten wie er, die ein Einstehen für die Personenfreizügigkeit als "Gottesdienst" belächeln, transnationale Lösungsansätze als "ideologisch" diskreditieren und so erst bewirken, dass Solidarität nur innerhalb nationaler Grenzen spielt.
Eigentlich können wir es uns nicht leisten, diskussionswürdige Lösungsansätze unreflektiert als "zentralistisch", "bürokratisch" oder "unschweizerisch" abzutun. Denn genau so entstehen menschengemachte Katastrophen: Sie werden massgeblich herbeigeredet und herbeigeschwiegen. Gefragt wäre mehr Information, etwa über Hintergründe und Sinn und Zweck des europäischen Intergrationsprozesses. Aber wer will schon Gefahr laufen, als "glühender Anhänger der EU" hingestellt zu werden...

Sonntag, 8. Dezember 2013

Hirnlose Fragen "des Tages" oder "der Woche"

"Lebenslange Verwahrung: Missachtet Bundesgericht den Volkswillen? Stimmen sie ab!"
Um es mit Max Frisch zu sagen: Mit dieser "Frage der Woche" hat die Schweiz am Sonntag die politische Parteinahme, die sie sich sparen wollte, bereits vollzogen. Schon mit dieser Fragestellung bekennt sie sich zur Forderung der Populisten, wonach in der Rechtsanwendung und Rechtsprechung nicht mehr das Recht, sondern die Stimmung im Volk ausschlaggebend sein soll. Das Mittelalter lässt grüssen.

Samstag, 30. November 2013

Economiesuisse investiert Millionen in heisse Luft

Infoplattform Infosperber, 9. Dezember 2013

In den Debatten rund um die Masseneinwanderungsinitiative und um Europapolitik generell kommt kaum zur Sprache, welchen Wert der europäische Integrationsprozess als solcher für die Menschen hat. Gefährdet sind, so die "Botschaft" der Gegner der Initiative, unsere "wirtschaftliche Interessen". Die Idee, die hinter der EU und dem europäischen Integrationsprozess steckt, und dass auch diese gefärdet sein könnte, ist nicht einmal Thema. Der Gedanke, dass erst ein „Souveränitätsverlust“ die Menschen wieder handlungsfähig macht, erscheint heute als völlig abstrus. Dass dieser (obendrein blasphemische) Gedanke als abstrus erscheint, zeigt, wie weit entfernt wir von jener Debatte sind, die in unserem ureigensten Interesse längstens geführt werden müsste.

Inwiefern sich die Abgabe von Souveränität an supranationale Organisationen als Segen erweisen kann, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Vor 167 Jahren stand Glarus vor ähnlichen Problemen wie wir heute: Das Volk wurde, wie Linke sagen würden, erpresst. 1846, zwei Jahre vor der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates, warnte der Verband der Glarner Textilfabrikanten vor einem Ja an der Landsgemeinde zum „extremen Verbot“ der Kinderarbeit unter 12 Jahren. Schon damals wurde, wenn auch nicht der Sowjet-Kommunismus (Marx war damals erst 28 Jahre alt, Lenin noch gar nicht geboren), so doch der Teufel mit Suggestivfragen an die Wand gemalt : „Abwanderung der Fabrikherren nach St. Gallen?“, „Steuerausfälle bis zu 400‘000 Batzen?“, „Arbeitslosigkeit wie in Zürich?“

Trotz der drohenden Abwanderung von Unternehmen – und anders als die 1:12-Initiative – nahm das Volk von Glarus damals das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren in mechanischen Spinnereien an. 1856 folgte die Ausweitung des Arbeitsverbotes für Kinder unter zwölf Jahren auf alle Fabrikbetriebe, 1858 das Verbot der Sonntagsarbeit. Im Bereich der Sozialgesetzgebung nahm Glarus damals eine Pionierrolle ein (bzw. legte ein „realitätsfernes Gutmenschentum“ und eine „ideologische Gesinnung“ an den Tag).
 
Glarus als Ausnahme bestätigt die Regel: Viele Errungenschaften des Sozialstaates konnten sich erst nach der Übernahme der Gesetzgebungskompetenz durch das „Monster“ Schweizerischer Bundesstaat durchsetzen. Das Beispiel Steuerwettbewerb zeigt: Wo keine oder keine weitreichende Rechtsvereinheitlichung erfolgte, blieben Gebietskörperschaften und ihre Bürger durch Mächtige erpressbar.

In einer sich globalisierenden Welt, in der Räume kleiner werden, können Probleme oft nur noch gemeinsam gelöst werden, d.h. durch eine Eindämmung des Standortwettbewerbs und seines „race to the bottom“, in dem gewinnt, wer sich gegenüber Mensch und Umwelt rücksichtslos verhält. Gegen Erpressung hilft oft nur die Abgabe von Regelungskompetenz an die nächsthöhere Ebene: an den Bund oder – „Landesverrat!“ – an supranationale Organisationen wie die EU.

Charakteristisch für den Europäischen Binnenmarkt, an welchem wir Schweizer uns via die Notlösung „Bilaterale“ beteiligen, ist so gesehen weniger dessen Freiheit, sondern – umgekehrt! – dessen Begrenzung, die die Freiheit erst ermöglicht: Charakteristisch sind die vielen „Brüsseler Diktate“, etwa Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards. Das Entscheidende an solchen supranationalen Rahmenbedingungen des freien Marktes ist, dass sie sich dadurch gegen Erpressung und Unterbietung (drohende Abwanderung von Firmen oder Steuerzahlern) immunisieren, dass es eben gemeinsame Regeln sind.

Die Masseneinwanderungsinitiative hat zweifellos mit sozialen und ökologischen Fragen zu tun (Lohndumping, Siedlungsdruck auf die Natur etc.). Wer diese Initiative annimmt, schadet aber seinen berechtigten Anliegen! Angriffsziel ist die Personenfreizügigkeit (PFZ) und mit der PFZ der gemeinsame Rechtsraum des europäischen Binnenmarktes als solcher. Der Angriff richtet sich damit wie dargelegt gegen die Voraussetzungen, um überhaupt handlungsfähig zu sein und Verhältnisse gemeinsam mit anderen zu verändern. Gutgläubige, die eine Abgabe von Regelungskompetenzen („Souveränität“) nach oben bisher kategorisch ablehnen, überlegen sich besser zweimal, wes' Lied sie eigentlich singen.

Am 2. Februar geht es nicht in erster Linie um die Zuwanderung. Und es geht insbesondere nicht nur um wirtschaftliche Interessen, wie uns Economiesuisse weismachen will. Die Personenfreizügigkeit ist nicht einfach eine „Kröte“, die wir im Interesse einer prosperierenden Wirtschaft zu schlucken hätten, sondern eine neu gewonnene Grundfreiheit, ein verteidigungswürdiger Wert an sich.

Mit ihrer Lesart verfehlt Economisuisse nicht nur kategorial die grundlegende Fragestellung im Zusammenhang mit der Masseneinwanderungsinitiative (und beleidigt damit die Idee, die hinter dem europäischen Einigungsprozess steht), sondern manipuliert den Stimmbürger genauso wie die Initianten, welche wahlweise Verlustängste oder Racheimpulse bedienen. Damit gefährdet Economisuisse fahrlässig ihren Abstimmungserfolg. Denn die Frage, ob der kurzfristige wirtschaftliche Nutzen stets das Mass aller Dinge sein soll, stellen sich viele Stimmbürger und Stimmbürgerinnen völlig zu Recht!

Weshalb trotzdem ein Nein zur Masseneinwanderungsinitiative? Am 9. Februar, aber auch in weiteren, kommenden Abstimmungen (Ecopop-Initiative, Kroatien-Referendum), die sich gegen die Personenfreizügigkeit richten, geht es um weitaus mehr als den kurzfristigen, ökonomischen Nutzen. Es geht um Fragen, die über das hinausweisen, was sich einem ökonomistischen Nützlichkeitsdenken mit Blick auf das Eigene erschliesst. Es geht um die Frage, inwiefern der europäische Integrationsprozess als solcher im Interesse von uns und aller Europäer und Europäerinnen ist – gerade angesichts der gegenwärtigen Rückschläge („Krise Europas“, „Eurokrise“). Denn für diese Rückschläge sind massgeblich protektionistische und nationalistische Tendenzen in vielen Staaten Europas ursächlich: Die populistische Bedienung der eigenen Klientel, und weniger Fehlentscheide eines "Bürokratiemonsters", das weniger Beamte zählt als beispielsweise die Stadtverwaltung von München.

Das „Wir-brauchen-die-ausländischen-Arbeitskräfte“-Gerede, dem fast ausnahmslos alle Gegner der Initiative frönen, lenkt von einer viel grundlegenderen Debatte ab, die zum Schaden von uns allen noch immer kaum geführt wird. Im Raum steht die Frage nach einer Alternative zum europäischen (und oft mühsamen) Integrationsprozess, an welchem wir qua „Bilaterale“ oder Mitgliedschaft im Europarat partizipieren. Die Losung „alle gegen alle“ oder „jeder für sich“ mit wechselnden Allianzen ist im Atomzeitalter keine Option mehr, und unter ethischen Gesichtspunkten war sie es noch nie.

Economiesuisse, welcher die Führung im Abstimmungskampf übertragen wurde, hat es verpasst, politische Akteure wie die „Neue Europäische Bewegung Schweiz“ (NEBS) mit an Bord zu holen, die mit Argumenten überzeugen anstatt nur mit Phrasen („Bewährte Bilaterale“, „Erfolgsmodell Schweiz“) überreden wollen. Damit vernachlässigt Economiesuisse sträflich ein Wählersegment, das nicht einfach mit PR abgespeist werden will. Der Economiesuisse selbst fehlen umgekehrt die Argumente, weil sie selbst nicht weiss, was sie will: Öffnung oder Abwehr? Freier Markt und damit "fremde Richter" oder doch lieber Steuerdumping auf Kosten unserer Nachbarn? Diese offensichtliche Absenz von Prinzipien und Überzeugungen ist Ursache des Glaubwürdigkeitsverlusts von Economiesuisse, der sich am 9. Februar fatal auswirken könnte.

Mittwoch, 13. November 2013

Eine schwache EU nützt denjenigen, die sich um Umwelt und Soziales foutieren.

TagesWoche online, 18. Nov. 2013; bz/Nordwestschweiz, 19. Nov. 2013

Europapolitik auf Abwegen? Lesung und Diskussion mit Robert Menasse

Im Jahr 2014 entscheidet sich, ob die Schweiz Europa und die Idee, die hinter einem vereinten Europa steht, stärkt oder schwächt. Kroatien-Referendum, Masseneinwanderungs- und Ecopop-Initiative versprechen Abhilfe gegen ausländische Konkurrenz, Lohndumping, Wohnungsnot, Siedlungsdruck. Wie den Medien entnommen werden kann, sind weitere, teils grüne Initiativen in Vorbereitung, die sich gegen den Freihandel richten. Es machen also nicht nur rechtskonservative Kreise gegen mehr Europa mobil: Tierschützer befürworten einen Importstopp von Billigfleisch anstatt sich international zu vernetzen und auf europäischer Ebene für schärfere Tierschutzbestimmungen zu kämpfen. Globalisierung, nicht aber zu billige Energie wird für den Niedergang der einheimischen, verbrauchernahen Produktion verantwortlich gemacht. Schliesslich spielen Linke die flankierenden Massnahmen gegen das Prinzip der Personenfreizügigkeit aus. Die Zahl derer, die in der EU nur ein Instrument des Neoliberalismus sehen, wächst. In Vergessenheit gerät, dass sich die Idee hinter Europa gerade gegen eine schrankenlose Konkurrenz zwischen Nationalstaaten wendet.

Verliererin des gegenwärtigen Gärtli-Denkens ist einerseits die Wirtschaft. Dabei haben sich die Bürgerlichen selbst in die verfahrene Situation hineinmanövriert, in welcher sie sich befinden. Wer sich mit dem lapidaren Hinweis auf den freien Wettbewerb weigert, über wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie (weltweite) Verteilungsgerechtigkeit, Steuerharmonisierung oder Sozial- und Umweltstandards überhaupt zu reden, öffnet irrationalen Angstbewältigungsstrategien Tür und Tor. Daniel Binswanger bemerkt zu Recht: "Die Strategie der Mitteparteien ist hochriskant. Wer sozialpolitisch keine Konzessionen machen will, dem können gegen den auftrumpfenden Nationalismus ganz plötzlich die Argumente fehlen". Die aufgewärmte Apfelbäumchen-Kampagne "bewährte Bilaterale" von Economiesuisse führt diesen Argumentationsnotstand vor Augen.

Andererseits macht uns die grassierende Angst vor Öffnung alle zu Verlierern: Manche Progressive vergessen, dass Angriffe gegen einen offenen, europäischen Markt zugleich Angriffe gegen dessen steuer-, sozial- und umweltpolitischen Rahmenbedingungen sind. Diese immunisieren sich aber gerade dadurch gegen Umwelt- und Sozialdumping, dass es eben gemeinsame Rahmenbedingungen sind: Ein Konzern, der sich an gemeinsame Steuerstandards halten muss, kann nicht erpresserisch mit Wegzug in ein anderes Land drohen, um seine gerechte Besteuerung zu verhindern. Durch ihr Abseitsstehen behindert die Schweiz die Weiterentwicklung solcher gemeinsamer Rahmenbedingungen.

Nutzniesser einer Politik, die keine gerechten Rahmenbedingungen zu schaffen vermag, sind einige Wenige (Rechtskonservative sprechen nicht von Rahmenbedingungen, sondern von Brüsseler "Regulierungswut"). Sie polemisieren nicht von ungefähr gegen alles Europäische und Fremde: Ihre Macht wird durch mehr Miteinander begrenzt. Auf lange Frist verlieren aber auch sie. Selbst wenn es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis zu Bewusstsein kommt, in welche Sackgasse eine nationalistische Politik führt – Fakt bleibt: In einer globalisierten Welt lassen sich viele Probleme umwelt- und sozialpolitischer Art nur noch gemeinsam mit anderen Staaten lösen, also auf supranationaler Ebene und unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Umweltzerstörung – und nicht nur sie! – macht vor keiner Grenze Halt.

Zudem sind die gegenwärtigen Herausforderungen weit weniger technisch-naturwissenschaftlicher als philosophischer Natur. Verheerend für eine intakte Zukunft unserer Kinder erweist sich eine Verwechslung von Ursache und Wirkung im Denken: Das kleinkarierte Gerede von der Unfähigkeit, Probleme auf internationaler Ebene zu lösen, erzeugt diese Unfähigkeit erst. “Fremde Richter”, “Souveränitätsverlust”, “Bürokratiemonster” – Schlechtmacherei bestimmt den europapolitischen Diskurs. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse beklagt einen solchen Missbrauch der Sprache zur Diskreditierung internationaler Zusammenarbeit: “Was auf nationaler Ebene einfach ‘Gesetzgebung’ heisst, wird im europäischen Einigungsprozess pejorativ zum ‘Regulierungswahn’”. Es lohnt sich, ihm zuzuhören: Am 21. November 19.30 Uhr liest Robert Menasse auf Einladung der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS) und der Regio Basiliensis im Basler Volkshaus aus seinem Buch “Der Europäische Landbote”. Die anschliessende Diskussion moderiert Georg Kreis. Der Eintritt ist frei, für ein Apéro ist gesorgt.

Freitag, 11. Oktober 2013

Gärtnerprotest hat mehr als ein "Geschmäckle"

"Gärtner aus unserer Region" unterstellen Deutschen in der Stadtverwaltung, sie seien sich selbst am nächsten, wenn sie Spielgeräte aus Deutschland empfehlen (BaZ, 10.10.13). "Das hat man davon, wenn man Deutsche an Schlüsselpositionen in der Stadtverwaltung anstellt": denn sie "achten darauf, dass ihre Landesgenossen berücksichtigt werden", tönt es aus den Reihen des Gärtnermeisterverbands.
Durch solche populistischen Unterstellungen beschädigen "Gärtner aus unserer Region" nicht zuletzt ihren eigenen Ruf. Der eine oder andere zugezogene Gartenbesitzer möge sich vor der nächsten Auftragsvergabe fragen, ob er und sein „Gärtner aus unserer Region“ noch Geschmack und Stil teilen – nicht nur bezüglich Gartengestaltung. Über Stil lässt sich bekanntlich nicht streiten. Aber den Gärtner kann man wechseln.

Donnerstag, 3. Oktober 2013

1:12 und die Debattenkultur

(Neue, leicht überarbeitete Auflage von "1:12 und Demokratie")  Wochenblatt für das Schwarzbubenland und Laufental, 3. Oktober 2013,

Der Abstimmungskampf um die 1:12-Initiative wirft Fragen bezüglich der Debattenkultur auf. Um es vorweg zu nehmen: Im Interesse der Qualität unserer Demokratie bräuchte es mehr „Debatten über die Debatten“. Dazu zwei Bemerkungen.

Erstens zur guten Kinderstube: Den Initianten Neid oder andere unlautere Motive zu unterstellen, ist undemokratisch, weil man dem Neid-Vorwurf nicht mit Argumenten entgegnen kann (dasselbe gilt für den Gier-Vorwurf seitens der Initianten). Ziel jeder „Killer-Argumentation“ ist es, einer sachlichen Debatte - hier über Gerechtigkeitsfragen - auszuweichen. Die sachliche Debatte ist jedoch Kern jeder Demokratie, die mehr als ihr Zerfallsprodukt sein will. (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Gegner der Initiative den Neid oft als Ansporn für mehr Leistung loben.)

Zweitens zum sogenannten „Aufmerksamkeitsdefizit“: Die Initianten pochen auf den politischen respektive demokratischen Anspruch der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse und stellen sich damit gegen marktlogische Sachzwänge. Eine Argumentation, die sich auf marktlogische Sachzwänge stützt ("scheues Reh Kapital", "Abwanderung von Arbeitsplätzen" etc.), zielt insoweit an der Sache vorbei, als es den Initianten ja gerade um die Durchbrechung dieses Teufelskreises marktlogischer Sachzwänge geht, insbesondere des Standortwettbewerbs und des in ihm angelegten „race to the bottom“.

Eine vernünftige Diskussion müsste demnach bei der Frage ansetzen, inwieweit dem Markt oder aber der Politik das Primat zukommen soll: Leisten wir freiwillig Verzicht auf Mitbestimmung, wo "der Markt" bzw. diejenigen, die in seinem Namen auftreten, einen solchen Verzicht von uns fordern? (Stutzig machen müsste hier, dass ausgerechnet jene, welche Grenzen der Demokratie leugnen, wenn es um die grundrechtlichen Voraussetzungen der Demokratie geht, plötzlich solche Grenzen fordern, wenn es um ihre Privilegien oder diejenigen ihrer Meinungsführer geht.)

In einem zweiten Schritt kann man darüber diskutieren, ob die 1:12-Initiative ein vernünftiges Mittel ist, gesellschaftliche Gestaltungsmacht zurückzuerobern. An dieser Stelle haben Sachzwänge wieder Platz: Ein mögliches Argument mit Blick auf das „scheue Reh Kapital" wäre, dass man einer globalisierten Wirtschaft nur auf supranationaler Ebene Rahmenbedingungen setzen kann. (Dann wäre es aber widersprüchlich, supranationale Zusammenarbeit oder Organisationen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verteufeln.)

Wirtschaftliche Sachzwänge einfach unhinterfragt hinzunehmen hiesse jedoch, den gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch ("die Demokratie") aufzugeben.