In den Debatten rund um die Masseneinwanderungsinitiative und um Europapolitik generell kommt kaum zur Sprache, welchen Wert der europäische Integrationsprozess als solcher für die Menschen hat. Gefährdet sind, so die "Botschaft" der Gegner der Initiative, unsere "wirtschaftliche Interessen". Die Idee, die hinter der EU und dem europäischen Integrationsprozess steckt, und dass auch diese gefärdet sein könnte, ist nicht einmal Thema. Der Gedanke, dass erst ein „Souveränitätsverlust“ die Menschen wieder handlungsfähig macht, erscheint heute als völlig abstrus. Dass dieser (obendrein blasphemische) Gedanke als abstrus erscheint, zeigt, wie weit entfernt wir von jener Debatte sind, die in unserem ureigensten Interesse längstens geführt werden müsste.
Inwiefern sich die Abgabe von Souveränität an supranationale Organisationen als Segen erweisen kann, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Vor 167 Jahren stand Glarus vor ähnlichen Problemen wie wir heute: Das Volk wurde, wie Linke sagen würden, erpresst. 1846, zwei Jahre vor der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates, warnte der Verband der Glarner Textilfabrikanten vor einem Ja an der Landsgemeinde zum „extremen Verbot“ der Kinderarbeit unter 12 Jahren. Schon damals wurde, wenn auch nicht der Sowjet-Kommunismus (Marx war damals erst 28 Jahre alt, Lenin noch gar nicht geboren), so doch der Teufel mit Suggestivfragen an die Wand gemalt : „Abwanderung der Fabrikherren nach St. Gallen?“, „Steuerausfälle bis zu 400‘000 Batzen?“, „Arbeitslosigkeit wie in Zürich?“
Trotz der drohenden Abwanderung von Unternehmen – und anders
als die 1:12-Initiative – nahm das Volk von Glarus damals das Verbot der
Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren in mechanischen Spinnereien an. 1856
folgte die Ausweitung des Arbeitsverbotes für Kinder unter zwölf Jahren auf
alle Fabrikbetriebe, 1858 das Verbot der Sonntagsarbeit. Im Bereich der
Sozialgesetzgebung nahm Glarus damals eine Pionierrolle ein (bzw. legte ein
„realitätsfernes Gutmenschentum“ und eine „ideologische Gesinnung“ an den Tag).
Glarus als Ausnahme bestätigt die Regel: Viele
Errungenschaften des Sozialstaates konnten sich erst nach der Übernahme der Gesetzgebungskompetenz durch
das „Monster“ Schweizerischer Bundesstaat durchsetzen. Das Beispiel
Steuerwettbewerb zeigt: Wo keine oder keine weitreichende
Rechtsvereinheitlichung erfolgte, blieben Gebietskörperschaften und ihre Bürger
durch Mächtige erpressbar.
In einer sich
globalisierenden Welt, in der Räume kleiner werden, können Probleme oft nur
noch gemeinsam gelöst werden, d.h. durch eine Eindämmung des Standortwettbewerbs
und seines „race to the bottom“, in
dem gewinnt, wer sich gegenüber Mensch und Umwelt rücksichtslos verhält. Gegen
Erpressung hilft oft nur die Abgabe von Regelungskompetenz an die nächsthöhere
Ebene: an den Bund oder – „Landesverrat!“ – an supranationale Organisationen
wie die EU.
Charakteristisch für
den Europäischen Binnenmarkt, an welchem wir Schweizer uns via die Notlösung
„Bilaterale“ beteiligen, ist so gesehen weniger dessen Freiheit, sondern – umgekehrt!
– dessen Begrenzung, die die Freiheit erst ermöglicht: Charakteristisch sind
die vielen „Brüsseler Diktate“, etwa Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards. Das
Entscheidende an solchen supranationalen Rahmenbedingungen des freien Marktes ist,
dass sie sich dadurch gegen
Erpressung und Unterbietung (drohende Abwanderung von Firmen oder
Steuerzahlern) immunisieren, dass es eben gemeinsame
Regeln sind.
Die
Masseneinwanderungsinitiative hat zweifellos mit sozialen und ökologischen
Fragen zu tun (Lohndumping, Siedlungsdruck auf die Natur etc.). Wer diese
Initiative annimmt, schadet aber seinen berechtigten Anliegen! Angriffsziel ist
die Personenfreizügigkeit (PFZ) und mit der PFZ der gemeinsame Rechtsraum des
europäischen Binnenmarktes als solcher.
Der Angriff richtet sich damit wie dargelegt gegen die Voraussetzungen, um überhaupt
handlungsfähig zu sein und Verhältnisse gemeinsam mit anderen zu
verändern. Gutgläubige, die eine Abgabe von Regelungskompetenzen („Souveränität“)
nach oben bisher kategorisch ablehnen, überlegen sich besser zweimal, wes' Lied
sie eigentlich singen.
Am 2. Februar geht es nicht in erster Linie um die Zuwanderung. Und es geht insbesondere nicht nur um wirtschaftliche Interessen, wie uns Economiesuisse weismachen will. Die Personenfreizügigkeit ist nicht einfach eine „Kröte“, die wir im Interesse einer prosperierenden Wirtschaft zu schlucken hätten, sondern eine neu gewonnene Grundfreiheit, ein verteidigungswürdiger Wert an sich.
Am 2. Februar geht es nicht in erster Linie um die Zuwanderung. Und es geht insbesondere nicht nur um wirtschaftliche Interessen, wie uns Economiesuisse weismachen will. Die Personenfreizügigkeit ist nicht einfach eine „Kröte“, die wir im Interesse einer prosperierenden Wirtschaft zu schlucken hätten, sondern eine neu gewonnene Grundfreiheit, ein verteidigungswürdiger Wert an sich.
Mit ihrer Lesart
verfehlt Economisuisse nicht nur kategorial die grundlegende Fragestellung im
Zusammenhang mit der Masseneinwanderungsinitiative (und beleidigt damit die
Idee, die hinter dem europäischen Einigungsprozess steht), sondern manipuliert
den Stimmbürger genauso wie die Initianten, welche wahlweise Verlustängste oder
Racheimpulse bedienen. Damit gefährdet Economisuisse fahrlässig ihren
Abstimmungserfolg. Denn die Frage, ob der kurzfristige wirtschaftliche Nutzen
stets das Mass aller Dinge sein soll, stellen sich viele Stimmbürger und
Stimmbürgerinnen völlig zu Recht!
Weshalb trotzdem ein
Nein zur Masseneinwanderungsinitiative? Am 9. Februar, aber auch in weiteren,
kommenden Abstimmungen (Ecopop-Initiative, Kroatien-Referendum), die sich gegen
die Personenfreizügigkeit richten, geht es um weitaus mehr als den
kurzfristigen, ökonomischen Nutzen. Es geht um Fragen, die über das
hinausweisen, was sich einem ökonomistischen Nützlichkeitsdenken mit Blick auf
das Eigene erschliesst. Es geht um die Frage, inwiefern der europäische
Integrationsprozess als solcher im
Interesse von uns und aller Europäer
und Europäerinnen ist – gerade
angesichts der gegenwärtigen Rückschläge („Krise Europas“, „Eurokrise“). Denn
für diese Rückschläge sind massgeblich protektionistische und nationalistische
Tendenzen in vielen Staaten Europas ursächlich: Die populistische Bedienung der
eigenen Klientel, und weniger Fehlentscheide eines
"Bürokratiemonsters", das weniger Beamte zählt als beispielsweise die
Stadtverwaltung von München.
Das „Wir-brauchen-die-ausländischen-Arbeitskräfte“-Gerede,
dem fast ausnahmslos alle Gegner der Initiative frönen, lenkt von einer viel
grundlegenderen Debatte ab, die zum Schaden von uns allen noch immer kaum
geführt wird. Im Raum steht die Frage nach einer Alternative zum europäischen
(und oft mühsamen) Integrationsprozess, an welchem wir qua „Bilaterale“ oder
Mitgliedschaft im Europarat partizipieren. Die Losung „alle gegen alle“ oder
„jeder für sich“ mit wechselnden Allianzen ist im Atomzeitalter keine Option
mehr, und unter ethischen Gesichtspunkten war sie es noch nie.
Economiesuisse,
welcher die Führung im Abstimmungskampf übertragen wurde, hat es verpasst,
politische Akteure wie die „Neue Europäische Bewegung Schweiz“ (NEBS) mit an
Bord zu holen, die mit Argumenten überzeugen
anstatt nur mit Phrasen („Bewährte Bilaterale“, „Erfolgsmodell Schweiz“) überreden wollen. Damit vernachlässigt
Economiesuisse sträflich ein Wählersegment, das nicht einfach mit PR abgespeist
werden will. Der Economiesuisse selbst fehlen umgekehrt die Argumente, weil sie
selbst nicht weiss, was sie will: Öffnung oder Abwehr? Freier Markt und damit
"fremde Richter" oder doch lieber Steuerdumping auf Kosten unserer
Nachbarn? Diese offensichtliche Absenz von Prinzipien und Überzeugungen
ist Ursache des Glaubwürdigkeitsverlusts von Economiesuisse, der sich am 9.
Februar fatal auswirken könnte.
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