Montag, 1. Juli 2013

Zur Polemik gegen „fremde Richter“


Basellandschaftliche Zeitung, 6. Juli 2013; Newsletter der NEBS, 16. Juli 2013; Online-Plattform "Infosperber", 21. Juli 2013.

Max Frisch würde es vermutlich so formulieren: Wer von „fremdem Recht“ und „fremden Richtern“ spricht, hat die Parteinahme, die er sich sparen wollte, bereits vollzogen. Er übernimmt die Deutung der Nationalkonservativen, wonach überstaatliches Recht unsere Souveränität bedroht und deshalb des Teufels ist. Diese Sicht blendet den schleichenden Bedeutungsverlust des nationalen Rechts aus: Wir sind unserer umfassenden Autonomie („Souveränität“) längst verlustig gegangen – wenn wir sie denn jemals hatten. Die Schweiz ist eng in überstaatliche Regelwerke eingebunden und längst „Passivmitglied“ der EU. Ob wir das bemerken oder nicht: Überstaatliches Recht bestimmt in immer höherem Masse unsere Lebenswirklichkeit, und das ist auch gut so! Denn einer globalisierten Wirtschaft können nur eine Transnationalisierung des Rechts und eine Globalisierung der Demokratie Rahmenbedingungen geben und Grenzen setzen.

Supranationale Organisationen stehen für diesen Gestaltungsanspruch der Demokratie, und es macht weder die Zielsetzungen solcher Organisationen noch diese selbst schlecht, sondern höchstens deren Politik, wenn sich auch auf supranationaler Ebene Nationalisten und Befürworter eines knallharten Standortwettbewerbs für mehr Konkurrenz unter den Nationalstaaten ins Zeug legen und Nationalstaaten zum Schaden ihrer Bürgerinnen und Bürger und zum Vorteil des Kapitals gegeneinander ausspielen. Viele Linke und Progressive verkennen diese Differenz und verteufeln im Chor mit den Nationalkonservativen Institutionen wie die EU, deren Zweck eine verstärkte Zusammenarbeit und – horribile dictu! – die Vermeidung von Machtkonzentration ist. (Hier ist man aus Geschichte schlau geworden. „Völkerrecht steht“, so der Völkerrechtsprofessor Robert Kolb, „dem Gedanken entgegen, jeder Staat dürfe jederzeit und in allen Belangen tun, was ihm gerade beliebt“).

Nach derselben Logik dürften linke Kritiker auch kein gutes Haar an unserem demokratischen, rechtsstaatlichen und gewaltenteiligen Bundestaat lassen, denn eine bessere Politik macht die Schweiz in ihren Augen nicht. Die Gleichsetzung einer Institution oder der Idee, die hinter ihr steckt, mit der Politik, die in ihrem Namen auftritt, ist ein verbreiteter Kurzschluss und Kennzeichen des Extremismus. Der Blick auf die Entstehung der Schweiz zeigt: Grosse Ideen und visionäre Entwürfe sind, was wir aus ihnen machen!

Wir Schweizerinnen und Schweizer des 21. Jahrhunderts lassen die Aufbruchstimmung, die unsere Vorväter beflügelte und 1848 den Schweizerischen Bundesstaat Wirklichkeit werden liess, schmerzlich vermissen. Wir sind bequem geworden, gefallen uns in der Rolle als Bewahrer einer heilen Welt und wähnen uns dabei selbstbestimmter, als wir sind. Diesem Realitätsverlust entspricht, dass wir überstaatliches Recht als "fremdes Recht" schlechtreden und uns oft nicht an dessen Findung und Fortentwicklung beteiligen. Am Ende kommen wir nicht darum herum, dieses Recht zu übernehmen und beklagen uns, nicht in den Entscheidungsfindungsprozess einbezogen worden zu sein. Diesen Umstand haben wir aber jenen zu verdanken, die sich am lautesten darüber beschweren und „fremdes Recht“ als undemokratisch ablehnen. Eigentlich wären wir Schweizerinnen und Schweizer aufgerufen, Europa und die Welt mitzugestalten, auch wenn wir in supranationalen Gremien „fast nichts zu sagen“ hätten. Doch zum Wesen demokratischer Entscheidungsfindung gehört, dass jeder Bürger oder jedes Land nur eine Stimme (oder wie im Ständerat jeder Teilstaat nur zwei Stimmen) und daher „fast nichts zu sagen“ hat. Wer, wenn nicht sie selbst, wollte diese demokratische Selbstverständlichkeit der „besten Demokratie der Welt“ lehren? Doch die Schweiz bringt nicht einmal diese eine Stimme, die sie hat, in den demokratischen Entscheidungsfindungsprozess auf EU-Ebene ein. Dieses Demokratiedefizit und diesen Verlust an geteilter Souveränität (die umfassende Autonomie ist wie erwähnt eine liebgewonnene Mär) haben wir „Musterdemokraten“ uns selbst zuzuschreiben. Unsere Demokratie wird nicht von aussen bedroht, wie uns manche weismachen wollen, sondern von innen durch unser Abseitsstehen.

Matthias Bertschinger, Nunningen, Jurist und Präsident der "Neuen Europäischen Bewegung Schweiz" (NEBS) Sektion beider Basel.

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