Mittwoch, 17. Juli 2013

Bringt Kroatien das Fass zum Überlaufen?


Die Anrufung der Ventilklausel schadet der Überzeugungsarbeit, welche der Bundesrat noch zu leisten hat im Rahmen des Abstimmungskampfs um eine Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien.

Was heisst "Personenfreizügigkeit"?

Das Freizügigkeitsabkommen führt schrittweise die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU ein. Personenfreizügigkeit (PFZ) bedeutet, dass Staatsangehörige der Schweiz und der EU- Mitgliedstaaten grundsätzlich das Recht erhalten, sich in einem Land der Vertragsparteien niederzulassen und dort zu arbeiten. Weitere Vorteile wie die gegenseitige Anerkennung von Berufsdiplomen kommen hinzu. Voraussetzungen sind ein gültiger Arbeitsvertrag, selbständige Erwerbstätigkeit oder ausreichende finanzielle Mittel. Flankierende Massnahmen und Übergangsfristen, während welcher die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen bis zur vollen Personenfreizügigkeit beschränkt werden kann (Kontingente), federn den Druck auf den Schweizerischen Arbeitsmarkt ab. Sogar nach Ablauf dieser „Kontingentsregelung“ kann die sogenannte „Ventilklausel“ angerufen und die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen zeitweise beschränkt werden, sofern eine überdurchschnittliche Zuwanderung eintritt.

Von der EU-17 zur EU-28

Die PFZ mit den „alten“ EU-Mitgliedstaaten Staaten Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien und dem Vereinigten Königreich (EU-15) sowie Malta und Zypern (EU-17) und den EFTA-Staaten hat das Stimmvolk im Rahmen der „Bilateralen I“ am 21. Mai 2000 mit 67,2% Ja genehmigt. Die Ausweitung der PFZ auf die 2004 der EU beigetretenen „EU-8“-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn (EU-25) genehmigte das Volk am 25. September 2005 mit 56% Ja, diejenige auf Rumänien und Bulgarien, die der EU 2007 beigetreten sind (EU-27), am 8. Februar 2009 mit 59,6% Ja  (Zusatzprotokolle I und II). Dieses Jahr ist Kroatien als 28. Mitglied der EU beigetreten. Dass auch gegen eine Ausdehnung der PFZ auf dieses Land das Referendum ergriffen wird, gilt als sicher. Mit einer Volksabstimmung ist 2014 oder 2015 zu rechnen. Gegen eine Ausdehnung der PFZ auf Kroatien werden dieselben Argumente ins Feld geführt wie für die beiden zustande gekommenen Initiativen „ECOPOP“ und „Masseneinwanderungsinitiative“. Alle drei Vorlagen gefährden die PFZ mit der EU.

Angst vor Arbeitspaltzverlust

Laut dem SVP-Präsidenten Toni Brunner wird mit der Ausdehnung der PFZ auf Kroatien das Tor zur freien Zuwanderung aus dem Balkan ein erstes Mal geöffnet. Mit Blick auf die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien sind solche Ängste weitgehend unbegründet. Aus diesen beiden Ländern zusammen sind im Jahr 2011 lediglich 2000 Personen in die Schweiz umgezogen. Die Zuwanderung erfolge ausserdem nicht unkontrolliert, meinen Wirtschaftsvertreter, sondern weil zusätzliches Personal von der Wirtschaft nachgefragt sei. Die niedrige Arbeitslosenquote in der Schweiz gibt ihnen dabei Recht. Allerdings sind die wirtschaftlichen Vorteile der PFZ für die Schweiz und ihre Wirtschaft dann ein schwaches Argument, wenn der durch die PFZ generierte Mehrwert nicht auch gerecht verteilt wird.

Angst vor Überfremdung und Überbevölkerung

Neben wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen spielen umwelt- und bevölkerungspolitische Fragen eine Rolle. Zur Angst vor dem Arbeitsplatzverlust tritt die Angst vor einer Überfremdung und Überbevölkerung der Schweiz, vor steigenden Mieten, überfüllten Verkehrsmitteln und einem zunehmenden Landverbrauch. Dass nicht nur Zuwanderung für steigende Platzknappheit verantwortlich ist, wird allerdings gerne vergessen. So stieg zum Beispiel der Wohnraumbedarf der Schweizer seit den achtziger Jahren um 30%. Angesichts von Globalisierung und der weltweiten Migration ist Bevölkerungspolitik eine Aufgabe, die nicht mehr nur auf nationaler Ebene gelöst werden kann. Es braucht im Gegenteil eine verstärkte internationale Zusammenarbeit. Die Angstmache der SVP vor Masseneinwanderung und ihre Geringschätzung der internationalen Kooperation ist auch insoweit scheinheilig, als es dieser Partei nichts zu denken gibt, mit Steuerprivilegien Wohlhabende und ganze Holdinggesellschaften ins Land zu locken. Auch ist der europäische Einbindungsprozess das beste Mittel gegen kriegerische Auseinandersetzungen und mit diesen einhergehenden Flüchtlingsströmen. Mit Kroatien wird nun erstmals ein Land EU-Mitglied, dessen Bevölkerung den letzten Krieg auf europäischem Boden miterleben (oder eben vor diesem fliehen) musste.

Falsches Signal des Bundesrats

Die EU pocht mit Recht auf die Gleichbehandlung beziehungsweise Nicht-Diskriminierung ihrer Mitglieder im Europäischen Binnenmarkt, an welchem via die Bilateralen auch die Schweiz partizipiert. Die Ausdehnung der PFZ auf Kroatien sichert demnach auch den Fortbestand der PFZ mit allen übrigen EU- und EFTA-Staaten und damit, so der Bundesrat, den ganzen bilateralen Weg. Denn mit der PFZ würden alle sieben „sektoriellen Abkommen“, die Bestandteile der „Bilateralen I“ sind, wegfallen – die „Guillotine-Klausel“ will es so: Mit ihr soll verhindert werden, dass eine Vertragspartei nur noch die für sie vorteilhaften Verträge weiterlaufen lässt und die anderen kündigt. Der Bundesrat ritzt allerdings selbst die PFZ, indem er bereits das dritte Mal ohne Not die Ventilklausel angerufen hat. Damit affirmiert er die Bedenkenträger, die vor einer Überfremdung warnen und setzt so auch das falsche Signal für die kommende Abstimmung über die Ausdehnung der PFZ auf Kroatien: Durch „Das Boot ist voll“-Botschaften könnten sich jene bestätigt fühlen, für welche eine dritte Ausdehnung der PFZ "das Fass zum überlaufen" bringt.

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