Sonntag, 14. Juli 2013

"Mensch-als-Maschine"-Vorstellung

Leserbrief zu "Auch der Zappelphilipp wird älter", Schweiz am Sonntag vom 14. Juli 2013, S. 37, erschienen am 21. Juli 2013.

Die Pathologisierung alles "Nicht-Normalen" (oder der Ränder des "Normalen") ist dasselbe wie die Gesunderklärung eines sinnentleerten Konformismus. Was unter ADHS, Autismus-Spektrum-Störung, Burnout, Depression etc. verbucht wird, ist sicherlich nicht nur eine genetisch bedingte, neuronale Signalverarbeitungs-Störung oder eine Dysfunktion - die "Mensch-als-Maschine-Vorstellung" lässt grüssen -, sondern oft auch eine unbewusste Revolte gegen einen "kollektiven Wahn", Auflehnung gegen eine Empathie-amputierte Welt, ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt mit dem, was als normal gilt und eingefordert wird. In einem gewissen Sinne etwas Gesundes also.

Verkomplizierend ist: Psychische "Störungen" sind ebenso Revolte gegen dieses "Gesunde" (Freud sprach in diesem Zusammenhang von einer Revolte gegen den Gott des Schicksals und der Notwendigkeit). Kurz: Menschen halten an Strukturen fest, die sie unbewusst als hohl erkennen, weil sie haltgebend und orientierungsstiftend sind. Psychische "Störungen" sollten demnach auch als Symtome eines inneren, letztlich geistigen Kampfes begriffen werden (deshalb lähmt Depression). Sie nur als Störungen in einem funktionalistischen Sinn zu begreifen, was zurzeit sehr in Mode ist, ist verglichen mit einem solchen hermeneutischen Ansatz, der von einer Selbstauslegung des Daseins ausgeht und auf das Erleben abstellt ("verstehende Psychopathologie"), schlichtweg beschränkt.

Der angesprochene Richtungsstreit innerhalb der Psychiatrie geht uns alle etwas an, denn die Frage, ob man psychisches Erleben derart reduzieren und damit vom Menschen absehen soll, hat eine oft unterschätzte politische Dimension (das ist auch der Grund dafür, weshalb ich mich hier als Laie zum Thema äussern will und darf). Im Artikel heisst es dazu treffend: "Genau genommen erzählt der gesellschaftliche Umgang mit ADHS eher eine Geschichte des Ausschlusses, weniger die einer Krankheit. Wer sich der Leistungsgesellschaft nicht anpasst, gilt als abnormal". Eine solche Feststellung soll umgekehrt nicht den Segen schmälern, den Medikamente vielen Betroffenen bringen.

4 Kommentare:

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  3. Die Psychiatrie, mit allen ihren mannigfaltigen Richtungen und Schulen, war schon immer ein Abbild der Gesellschaft. Dessen sind sich "die" Psychiatrie und "die" Psychologie ebenso bewusst wie der interessierte Laie.
    Interessant finde ich die postulierte Analogie der unbewussten Motivation zur "Revolte gegen das Gesunde" des "psychisch Kranken" und des "Religiösen". Können / müssen wir daraus schliessen, dass der "Religiöse" psychisch krank ist?

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  4. Ich schrieb ja über die Mehrdeutigkeit psychischen Erlebens, von einem "inneren Kampf". Diese Mehrdeutigkeit weist auch das religiöse Erleben auf, siehe z.B. Hiobs Ringen mit Gott. Meines Erachtens ist ein Festhalten an Illusionen (oder theologisch gesprochen: der "Götzendienst") eine Revolte gegen das, was ich oben "etwas Gesundes" nannte. Ein naiver Glaube wäre demnach eine von zahlreichen Strategien der Auflehnung gegen die Realität.
    Umgekehrt würde ich die Erfahrung dieses "Gesunden", also die Erfahrung unseres Ausgesetztseins (Freud sprach in diesem Zusammenhang auch von "Realtät"), nicht nur dem religiösen Erleben zurechnen, sondern geradezu als dessen Kern bezeichnen (das ist natürlich eine Definitionsfrage: was versteht man unter Religion?).
    Eben diese Mehrdeutigkeit, sei es im psychischen oder religiösen Erleben, lässt den einfachen Schluss nicht zu, Religiöse revoltierten einfach nur gegen die Realität. Sie sind - zuvor noch, wie könnte es anders sein - von ihr betroffen.

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