Die Anrufung der Ventilklausel schadet der Überzeugungsarbeit, welche der Bundesrat noch zu leisten hat im Rahmen des Abstimmungskampfs um eine Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien.
Was heisst "Personenfreizügigkeit"?
Das Freizügigkeitsabkommen führt schrittweise die
Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU ein. Personenfreizügigkeit
(PFZ) bedeutet, dass Staatsangehörige der Schweiz und der EU- Mitgliedstaaten grundsätzlich
das Recht erhalten, sich in einem Land der Vertragsparteien niederzulassen und
dort zu arbeiten. Weitere Vorteile wie die gegenseitige Anerkennung von
Berufsdiplomen kommen hinzu. Voraussetzungen sind ein gültiger Arbeitsvertrag,
selbständige Erwerbstätigkeit oder ausreichende finanzielle Mittel. Flankierende
Massnahmen und Übergangsfristen, während welcher die Zahl der
Aufenthaltsbewilligungen bis zur vollen Personenfreizügigkeit beschränkt werden
kann (Kontingente), federn den Druck auf den Schweizerischen Arbeitsmarkt ab. Sogar nach
Ablauf dieser „Kontingentsregelung“ kann die sogenannte „Ventilklausel“
angerufen und die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen zeitweise beschränkt werden,
sofern eine überdurchschnittliche Zuwanderung eintritt.
Von der EU-17 zur EU-28
Die PFZ mit den „alten“
EU-Mitgliedstaaten Staaten Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland,
Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich,
Portugal, Schweden, Spanien und dem Vereinigten Königreich (EU-15) sowie Malta
und Zypern (EU-17) und den EFTA-Staaten hat das Stimmvolk im Rahmen der
„Bilateralen I“ am 21. Mai 2000 mit 67,2% Ja genehmigt. Die Ausweitung der PFZ auf
die 2004 der EU beigetretenen „EU-8“-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen,
Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn (EU-25) genehmigte das
Volk am 25. September 2005 mit 56% Ja, diejenige auf Rumänien und Bulgarien,
die der EU 2007 beigetreten sind (EU-27), am 8. Februar 2009 mit 59,6% Ja (Zusatzprotokolle I und II). Dieses
Jahr ist Kroatien als 28. Mitglied der EU beigetreten. Dass auch gegen eine
Ausdehnung der PFZ auf dieses Land das Referendum ergriffen wird, gilt als
sicher. Mit einer Volksabstimmung ist 2014 oder 2015 zu rechnen. Gegen eine Ausdehnung
der PFZ auf Kroatien werden dieselben Argumente ins Feld geführt wie für die beiden
zustande gekommenen Initiativen „ECOPOP“ und „Masseneinwanderungsinitiative“. Alle
drei Vorlagen gefährden die PFZ mit der EU.
Angst vor
Arbeitspaltzverlust
Laut dem
SVP-Präsidenten Toni Brunner wird mit der Ausdehnung der PFZ auf Kroatien das
Tor zur freien Zuwanderung aus dem Balkan ein erstes Mal geöffnet. Mit Blick
auf die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien sind solche Ängste weitgehend
unbegründet. Aus diesen beiden Ländern zusammen sind im Jahr 2011 lediglich
2000 Personen in die Schweiz umgezogen. Die Zuwanderung erfolge ausserdem nicht
unkontrolliert, meinen Wirtschaftsvertreter, sondern weil zusätzliches Personal
von der Wirtschaft nachgefragt sei. Die niedrige Arbeitslosenquote in der Schweiz
gibt ihnen dabei Recht. Allerdings sind die wirtschaftlichen Vorteile der PFZ
für die Schweiz und ihre Wirtschaft dann ein schwaches Argument, wenn der durch die PFZ generierte Mehrwert nicht auch
gerecht verteilt wird.
Angst vor Überfremdung und Überbevölkerung
Neben wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen spielen umwelt-
und bevölkerungspolitische Fragen eine Rolle. Zur Angst vor dem
Arbeitsplatzverlust tritt die Angst vor einer Überfremdung und Überbevölkerung
der Schweiz, vor steigenden Mieten, überfüllten Verkehrsmitteln und einem
zunehmenden Landverbrauch. Dass nicht nur Zuwanderung für steigende
Platzknappheit verantwortlich ist, wird allerdings gerne vergessen. So stieg zum
Beispiel der Wohnraumbedarf der Schweizer seit den achtziger Jahren um 30%.
Angesichts von Globalisierung und der weltweiten Migration ist Bevölkerungspolitik
eine Aufgabe, die nicht mehr nur auf nationaler Ebene gelöst werden kann. Es
braucht im Gegenteil eine verstärkte internationale Zusammenarbeit. Die
Angstmache der SVP vor Masseneinwanderung und ihre Geringschätzung der internationalen
Kooperation ist auch insoweit scheinheilig, als es dieser Partei nichts zu
denken gibt, mit Steuerprivilegien Wohlhabende und ganze Holdinggesellschaften
ins Land zu locken. Auch ist der europäische Einbindungsprozess das beste
Mittel gegen kriegerische Auseinandersetzungen und mit diesen einhergehenden
Flüchtlingsströmen. Mit Kroatien wird nun erstmals ein Land EU-Mitglied, dessen
Bevölkerung den letzten Krieg auf europäischem Boden miterleben (oder eben vor diesem
fliehen) musste.
Falsches Signal des Bundesrats
Die EU pocht mit Recht auf die Gleichbehandlung beziehungsweise Nicht-Diskriminierung ihrer Mitglieder im Europäischen Binnenmarkt, an welchem via die Bilateralen auch die Schweiz partizipiert. Die
Ausdehnung der PFZ auf Kroatien sichert demnach auch den Fortbestand der PFZ mit allen
übrigen EU- und EFTA-Staaten und damit, so der Bundesrat, den ganzen bilateralen Weg. Denn mit der PFZ würden alle sieben „sektoriellen
Abkommen“, die Bestandteile der „Bilateralen I“ sind, wegfallen – die
„Guillotine-Klausel“ will es so: Mit ihr soll verhindert werden, dass eine
Vertragspartei nur noch die für sie vorteilhaften Verträge weiterlaufen lässt
und die anderen kündigt. Der Bundesrat ritzt allerdings selbst die PFZ, indem
er bereits das dritte Mal ohne Not die Ventilklausel angerufen hat. Damit affirmiert er die Bedenkenträger, die vor einer Überfremdung warnen und setzt so auch das
falsche Signal für die kommende Abstimmung über die Ausdehnung der PFZ auf
Kroatien: Durch „Das Boot ist voll“-Botschaften könnten sich jene bestätigt fühlen, für welche eine dritte Ausdehnung der PFZ "das Fass zum überlaufen" bringt.