Dienstag, 30. April 2013

Problemfall Äquivokationen

Wir Schweizer bräuchten mehr Selbstbewusstsein, lautet ein wohlmeinendes Mantra. "Selbstbewusstsein" ist aber nicht zwangsläufig das Gegenteil von Minderwertigkeitskomplex, sondern oft Ausdruck davon. "Selbstbewusstsein" ist eine Äquivokation, ein und derselbe Begriff für zwei paar Stiefel. "Selbstbewusstsein" steht für gesundes Selbstbewusstsein wie für hybride Selbstüberhöhung, also ebenso für das pure Gegenteil, denn gesundes Selbstbewusstsein impliziert Bescheidenheit. (Dasselbe gilt für Äquivokationen wie "Freiheit", "Selbstverantwortung" oder "Selbstbestimmung", weshalb diese Begriffe oft nur Worthülsen sind.) Ich sehe keine zerfleischende Selbstkritik, die es zu überwinden gälte, sondern seit Jahren ein unwürdiges Rückzugsgefecht, zum Beispiel beim Bankgeheimnis. Das Motto lautet: Erst wenn alle einen Schritt vorwärts gemacht haben, ziehen wir Schweizer nach. Solange das nicht der Fall ist, treten wir zum Schaden einer transnationalen Zusammenarbeit bei Problemlösungen auf die Bremse. Verlustängste sind eine Gefahr für Innovation, die Wirtschaft weiss das. Gegenstand von Verlustängsten sind nicht selten liebgewonnene Illusionen - mit anderen Worten: nichts. Gefragt ist im ureigenen Interesse gerade kein Mehr an Trotz und Verweigerung, die Selbstgefällige als "Selbstbewusstsein" oder "Realpolitik" verklären - es ist oft nicht mehr als ein Festhalten an nichts und Nichtigem. Übrigens: Gesundes Selbstbewusstsein unterscheidet sich wohl dadurch vom Grössenwahn, dass es nicht für alle Schwierigkeiten Schuldige benennt.

Matthias Bertschinger
Vorstand NEBS beider Basel

Sonntag, 28. April 2013

Nicht länger schweigen!


Basler Zeitung, 30. April 2013
Basellandschaftliche Zeitung, 3. Mai 2013


Womöglich haben wir es mit einem „Kairos“ zu tun, einem Zeitfenster oder Augenblick der Entscheidung, den man nicht ungenützt verstreichen lassen sollte: Der Entscheidung für Einspruch seitens einer schweigenden Mehrheit! Vor etwa zwei Jahren hat Blocher das, was nicht ins nationalkonservative Gedankengut passte, noch einigermassen harmlos obwohl anmassend als "unschweizerisch" bezeichnet. Der Ton hat sich seither verschärft: Heute sprechen Vertreter rechtskonservativer Kreise zunehmend von "Landesverrat": Die Befolgung eines Richterspruchs aus Strassburg, das Hinterfragen des Bankgeheimnisses – all dies sei „Landesverrat“. (Wo Populisten mit der Verächtlichmachung universaler Menschenrechte selbst an den Fundamenten des demokratischen Rechtsstaats rütteln, handelt es sich dagegen nicht etwa um Landesverrat, sondern beschönigend um ein „Hinterfragen von Denkverboten“.) „Landesverrat“ ist ein Superlativ, und dessen Fluch sei die Zerstörung des ihm entgegenstehenden Intellekts. Dieses Bonmot stammt von Victor Klemperer, Philologe und Überlebender des Holocaust, der Propaganda und Sprache des Dritten Reichs untersuchte. Wenn in Leserbriefen räsoniert wird, man habe wohl in Zukunft selbst für seine Sicherheit zu sorgen, gehört dies noch zu den harmloseren Folgen rechtspopulistischer Propaganda. Doch hier zeigt sich: Der Gedanke der Selbstjustiz wird salonfähig. Denn schliesslich habe man es mit einer Regierung zu tun, die den „stillen Staatsstreich“ vorbereite oder bereits praktiziere. Wie schnell es gehen kann, bis Bürgerwehren das "Recht" selbst in die Hand nehmen, und was wirklich staatsstreichartig ist, zeigt ein Blick nach Ungarn. Meinen Vorstellungen von Volkssouveränität und Bürgerdemokratie entsprechen die Zustände in diesem Land nicht, und wohl auch nicht einer schweigenden Mehrheit hierzulande. Dieser sei jedoch in Erinnerung gerufen, dass es zunehmend schwieriger wird, Einspruch zu erheben. Das hat einerseits mit dem herrschenden Diskurs zu tun. Klemperer schildert dessen Macht eindringlich: „Ich weiss, dass mir all meine kritische Aufmerksamkeit im gegebenen Augenblick gar nicht hilft: irgendwann überwältigt mich die gedruckte Lüge, wenn sie von allen Seiten auf mich eindringt, wenn ihr rings um mich her nur von wenigen, von immer wenigern und schliesslich von keinem mehr Zweifel entgegengebracht werden“. Andererseits wird sich kein Mensch, der noch ganz bei Trost ist, in die Ecke des „Landesverräters“ stellen lassen, wenn mit diesen nicht mehr zimperlich verfahren wird. Womöglich bringt diese Aussicht bereits heute viele zum Schweigen.

Donnerstag, 25. April 2013

Einfältige Urwaldtheorie

Basellandschaftliche Zeitung, 26. April 2013

Der Sozial- und Wirtschaftspsychologe Christian Fichter erhebt Fremdenfeindlichkeit zur anthropologischen Grundkonstante, wenn er behauptet, Fremdenfeindlichkeit liege hierzulande wie bei Urwaldvölkern im urmenschlichen Phänomen begründet, die eigene Kultur gegenüber Profiteuren schützen zu müssen. Gemäss einem solchen biologistischen, psychologistischen bzw. utilitaristischen Verständnis ist Fremdenfeindlichkeit etwas Natürliches oder sogar Vernünftiges. Nach Ansicht des Philosophen Karl Jaspers bekämpfen wir in Fremden unser eigenes existentielle Schwachsein und unsere Sterblichkeit. Fremdenfeindlichkeit ist so verstanden nicht Folge unserer Instinkte, sondern eines "metaphysischen Erschreckens", das in unsicheren Zeiten stärker an die Bewusstseinsoberfläche drückt. Eine von vielen möglichen Strategien, diesen Schrecken unter dem Deckel zu halten, ist dessen Projektion auf Fremde und Schwache, in denen er bekämpft werden kann. Diese Sicht der Dinge erlaubt es im Gegensatz zur heute meist unhinterfragten "Urwaldtheorie", sich in seinem fremdenfeindlichen Verhalten selbst fragwürdig und verdächtig zu werden.

Matthias Bertschinger
Nunningen

Sonntag, 21. April 2013

Sündenbock-Politik

Sündenbock-Politik löst keine Probleme - einverstanden. Die 1:12-Initiative auf Sündenbock-Politik zu reduzieren aber noch weniger. Populismus hat mit Ressentiment zu tun - gegen Gruppen, Ethnien, Nationen, Religionen. Populisten lenken von drängenden Problemen ab, indem sie Sündenböcke präsentieren.
Hinter der 1:12-Initiative steht das berechtigte Anliegen, endlich das drängende Problem der Verteilungsgerechtigkeit anzupacken. Populistisch ist, dieses berechtigte Anliegen als Ressentiment gegen Reiche abzutun ("Neiddebatte").
Nicht populistisch wäre, bessere Vorschläge zu präsentieren. Die liegen wohl auf der Ebene einer vertärkten supranationalen Zusammenarbeit: in griffigen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Genau dagegen wehren sich Populisten durch Zuflucht zum Nationalismus - "aus Liebe zur Schweiz". Doch "Nationalstolz ist nun einmal ohne Ressentiments und Aggressionen gegen andere nie ganz zu haben" (Robert Menasse). Für Politiker sei es sehr riskant, der Öffentlichkeit zuzurufen: "Vergesst mal das nationale Geschwurbel!" (ders.).
Das "Öisi-Heimat"-Geschwurbel ist gefährlicher, als man denkt. Es lenkt nicht nur von den wahren Problemen ab, sondern erzeugt auch Hass unter den Nationen. Peter Bichsel meint, Patriotismus sei etwas Verbrecherisches. Das scheint nur deshalb übertrieben, weil niemand das Kind beim Namen nennt.

Sonntag, 7. April 2013

Dreck am Stecken

Schweiz am Sonntag, 14. April 2013

Dank Offshore-Leaks wissen wir: Andere Länder handeln nicht moralischer als die Schweiz.
Doch der springende Punkt ist nicht, dass andere Länder ebenfalls Dreck am Stecken haben, und es also heuchlerisch ist, der Schweiz mit der Kavallerie zu drohen. Entscheidend ist, dass die Schweiz immer an vorderster Front verhindert hat, dass man derer habhaft wird, die die Allgemeinheit um Steuermillionen betrügen.
SVP, FDP und CVP verkaufen das Bankgeheimnis als Schutz der "Privatsphäre". Der einfache Angestellte hat aber weder eine solche "Privatsphäre" noch Anspruch auf sie: seinen Lohnausweis erhält das Steueramt direkt vom Chef (diese "Verletzung der Privatsphäre" regt hingegen keinen bürgerlichen Politiker auf). Am Teuersten kommt die Verteidigung jener sogenannten "Privatsphäre" diejenigen zu stehen, die immer brav bürgerlich wählen: den Mittelstand. Denn würden alle Bürgerinnen und Bürger die Steuern bezahlen, die sie bezahlen müssten, könnte man den Mittelstand längst steuerlich entlasten.
Dass viele Wählerinnen und Wähler das eigentliche Problem der Krise bei der aufgeblähten Bürokratie, der Zuwanderung oder sogenannten "Sozialschmarotzern" sehen (gewiefte "Steueroptimierer" sind ja keine, sondern begehen "nur" ein Kavalliersdelikt), ist ganz im Sinne derer, die eine internationale Kooperation (Datenaustausch) verhindern anstatt Kapitalfluchtwege abschneiden wollen.
Vonwegen dreckig: Manche Wortführer hetzen gezielt Kleine gegen noch Kleinere auf, um von den wirklichen Missständen abzulenken, von denen sie profitieren. Ihr Vorteil: Gerade in Krisenzeiten sind Menschen gerne bereit, alles Abgründige in Anonyme, Schwache und Fremde zu externalisieren, in denen man es bequem bekämpfen kann. Abgrund und eigenes Schicksal werden in ruhigen Zeiten pedantisch und in Krisenzeiten fanatisch separiert. So oder so: L'enfer c'est les autres - die Hölle sind immer die anderen.