Populismus und dessen Folgeerscheinungen wie Rassismus, überschiessende Heimatliebe und Abgrenzung gegen Fremdes, Europa – letztlich vieles, was „unsere“ Identität kennzeichnet – ist ein Aufstand gegen das Denken. Das Unvermögen zu denken, der sogenannte „dumme“ Wähler, spielt eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wollen wir weniger denken, als wir könnten. Problematisch sind rein numerisch nicht die dummen, sondern die renitenten Wähler, Bürger, Politiker, Publizisten und Chefredaktoren.
Wir rebellieren gegen das Denken, weil wir intuitiv spüren, dass uns das Denken vor die Angst machenden Probleme des Daseins stellt – Probleme, deren Zahl und Gewicht gegenwärtig zunehmen und erstmals erkanntermassen das Dasein als solches bedrohen, was ein zeitgeschichtliches Novum ist und es deshalb erschwert, Parallelen zur Vergangenheit zu ziehen.
Denkende Wahrnehmung drückt uns die gegenwärtigen Probleme förmlich auf die Augen, weil diese so zahlreich und schwerwiegend sind. Denken verunmöglicht, vor diesen Problemen zu fliehen. Deshalb drücken wir uns vor dem Denken. Populismus ist der letzte verzweifelte Versuch, Problemen und dem auf sie weisenden Denken aus dem Wege zu gehen. Populismus ist Appell zur Aufrechterhaltung des alltäglichen, althergebrachten Betriebs, unseres courant normal, dem, was vermeintlich schon immer und gut so war. Die beunruhigende Frage lautet: Wie weit wird Verzweiflung dieses Mal gehen? Bis zu welchen Anomalitäten erachten wir den courant normal dieses Mal noch als normal und quasi geschichtslos, obwohl er sich ändert? Denn was heute als normal erscheint, war es kürzlich noch nicht!
Wir sind wie kleine Kinder, die die Augen verschliessen, um Gefahren abzuwenden. Gefragt wäre dagegen Mut, sich dem, was sich zeigt, zu stellen. Nicht nur, weil sich Probleme nur lösen lassen, indem wir uns ihrer denkend annehmen. Auch werden wir erst so liebesfähig, denn Liebe baut auf Konfrontation, auf Wahrnehmung und Rezeption dessen, was sich zeigt. Und dies tun Menschen massgeblich denkend.
Stattdessen fliehen wir vor unserem Denken und damit vor uns selbst in eine Vergangenheit, die so nicht mehr ist und so einfach und schön wie vorgestellt weitgehend auch nie war. Wir wünschen uns alle Zeit wie die vorgestellte Vergangenheit: Von Gott behütet, von Albert Anker gemalt, von Gotthelf beschrieben, von Heidi vorgelebt, im Reduit verinnerlicht, auf Rütli beschworen und an der Albisgüetli-Tagung zum Programm erklärt. Bloss lässt sich Zukunft so nicht gestalten, denn Zukunft wird nie so sein können, wie die Vergangenheit vermeintlich einmal war, ganz gleich, ob man dies begrüssen oder bedauern mag.
Denken muss man nicht üben, man muss es lediglich befreien. Das hingegen muss man üben. Anker und Gotthelf kann man dagegen auch weiterhin mögen.Ich wünsche Ihnen und uns allen Zukunftswille fürs Neue Jahr!
Samstag, 15. Januar 2011
Wir Renitenten (Wochenblatt vom 13. Januar 2011)
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