Montag, 28. März 2011

Keine Demokratie ohne Solidarität

Gastbeitrag in der Basler Zeitung vom 30. März 2011
Der Pfarrer Peter Ruch möchte den Sozialstaat abschaffen. Denn dieser funktioniere wie eine Drogensucht, erzeuge «Sozial-» und «Bildungsdealer», sei verantwortlich für Fremdenfeindlichkeit und überhaupt des Teufels, da er als allmächtiger Fürsorger an die Stelle Gottes trete (BaZ 25.3.11). Fürchtet ein «Glaubensdealer» da Konkurrenz?
Respekt.
Arme, Waisen und Behinderte solle man sich selbst überlassen, irgendwer nehme sich ihrer schon an: Der Mensch brauche eine Portion Unsicherheit und Risiko. Das Volk sei frei und betreue sich selbst. – Solchen zynischen Rundumschlägen hätte die BaZ früher keine Plattform geboten. Nicht, weil man keine anderen Meinungen zuliess, sondern weil man wusste, was Meinungsvielfalt eben nicht bedeutet: Dass man unter diesem Deckmäntelchen gegen Minderheiten hetzen oder Schwache ausgrenzen darf. Der demokratische Diskurs ist auf Meinungsvielfalt angewiesen – wie auf mitmenschlichen Respekt. Zur Kultur des Miteinanders gehört, dass die Allgemeinheit jenen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht, die nicht für sich selbst sorgen können. Selbst wenn der Sozialstaat sich zum «Anspruch auf flächendeckende Wellness auf Kosten anderer» pervertiert hätte, wie Ruch unterstellt, wäre die Forderung, ihn abzuschaffen, wie wenn man das Recht abschaffen wollte, weil man meint, die Justiz sei zu «kuschelig» geworden. Der Sozialstaat ist wie das Recht für die Schwachen da. Diese kulturellen Errungenschaften ermöglichen ein friedliches Zusammenleben, verteilen Freiheit und Lebenschancen – auf Kosten des «Rechts» des Stärkeren, der grenzenlosen Freiheit weniger.
das Wohl der Schwachen.
Dass uns Kultur von der Lebensrealität entfernt, zeichnet sie gerade aus, wenn Lebensrealität «Unsicherheit und Risiko» einer Naturordnung bedeutet, in welcher der Mensch dem Menschen ein Wolf ist - Solidarität dem Zufall überlassen bleibt. Stürzen sich «Sozialstaatsbürger in brandgefährliche Abenteuer», um dieser Lebensrealität wieder näher zu sein, ist das ihr gutes Recht; das heisst aber nicht, dass die ganze Gesellschaft dieses Abenteuer wagen sollte, nur weil ein Fanatiker darin ihr Heil sieht. Demokratie ohne Solidarität funktioniert nicht. Die Stärke des Volkes misst sich daher am Wohl der Schwachen. Dass ich als atheistischer «Rechtsdealer» diesen Passus der Präambel der Bundesverfassung einem christlichen Seelsorger unter die Nase reiben muss, ist verrückt. Zu denken gibt mir aber weniger dessen Verblendung als die Schamlosigkeit, mit der sich Mächtige des Wutpotenzials solcher Menschen bedienen, sie in ihren Menschen verachtenden Affekten bestärken, ihnen eine Plattform bieten – kurz: sie instrumentalisieren und damit ihre eigene Menschenverachtung und Machtgier unter Beweis stellen.

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