Mittwoch, 17. Oktober 2012

Worauf es ankommt

Die Basellandschaftliche Zeitung berichtet in ihrer Ausgabe vom 17. Oktober (S. 5) von sog. „heimatlosen“ Schweizern, das heisst von „Fällen, in denen sich Personen im bisherigen Kanton abmeldeten, in einem anderen in ein Heim zogen, sich dort aber nicht anmelden konnten. Der ursprüngliche Kanton wollte die Person dann mangels Wohnadresse auch nicht wieder aufnehmen“. Da ist dem Amtsschimmel geglückt, worauf es dem Standortwettbewerb ankommt: Menschen loszuwerden, die nur noch als Kostenfaktoren wahrgenommen werden. Gemeinden vergraulen Sozialhilfebezüger teils bewusst oder sorgen dafür, dass keine neuen zuziehen. Diese sollen ihre Schriften gefälligst anderswo deponieren und anderen auf der Tasche liegen.
„Der Ausländer“ ist Sinnbild eines solchen Denkens, das den Menschen nur noch unter dem Aspekt seiner Verwertbarkeit sieht. Er ist der Mensch, den man abschieben, also notfalls wieder loswerden kann, wenn er nichts mehr "nützt": reine Manövriermasse der Ökonomie. Wo Linke in guter Absicht den Nutzen solcher Menschen zweiter Klasse für unsere Wirtschaft hervorkehren, machen sie sich selbst zu Fürsprechern einer ökonomistischen Logik, die nicht nur menschenunwürdig ist, sondern auch zu keinem Ziel führt, weil sie sich im Gegeneinander erschöpft und aus diesem Grund obendrein noch nationalistisch ist: einer Logik, die den eigenen Standort zum Prinzip erklärt und dabei das Prinzip Mensch vergisst.
Anstatt dass man sich endlich zusammensetzte und gemeinsam die gemeinsamen Probleme angeht – und zwar transkommunal, transkantonal und vor allem transnational – dringt aus den Amtsstuben ein leises Wehklagen: „Ach, wäre doch auch dieser oder jener Bürger" – nein: kein Sans Papiers, sondern: – "nicht hiesigen ‚papiers‘". Dabei wäre mehr Solidarität und Kooperation gefragt, und das ist nicht einfach eine linke Forderung und auch nicht in erster Linie eine moralische Frage, sondern eine des Verstands.
Ein Weiteres kommt hinzu: Was ein solches vordergründiges, egoistisches und am kurzfristigen Interesse orientiertes Denken wirklich gefährlich macht, ist, dass es in seinem Denken den Menschen zweiter Klasse, den Minderwertigen und Schwachen, erst erzeugt, den ein ganz anderes, „hintergründiges" Denken und Verhalten als Projektionsfläche braucht, um sich nicht selbst hassen zu müssen. Die Rede ist von einem Denken und Verhalten, das am Schwachen und „Minderwertigen“ ein Schwachsein und eine Hinfälligkeit verachtet und hasst, die es – letztlich als Sterblichkeit – an sich selbst erkennt und hasst. Deshalb dient auch der Egoismus
genauso wie sein Ausbeutungsgegenstand: der Fremde und Schwächere nie nur vordergründigen Interessen, wie viele Linke meinen und damit in einer Verwertungslogik verharren, sondern hat als Kehrseite von Fremdenfeindlichkeit und Verachtung der Schwachen: als Selbstüberhöhung und Egomanie genauso wie der Fremd- und Schwachgesetzte –, dieselbe Verblendungsfunktion in Bezug auf das existentielle und „unter-bewusste“ Erkennen der eigenen Hinfälligkeit. Dieser „ontologische Sinnzusammenhang“ entgeht unserem Blick, und gerade das macht ihn so gefährlich. Wir laufen heute Gefahr, dass ein oft vorschnell überwunden und als unergründlich geglaubtes Denken und Verhalten zu neuem Leben erwacht, welches wie jedes Denken und Verhalten dann am zuverlässigsten von uns Besitz ergreift, wenn es selbst nicht in den Blick gerät. Seien wir also wachsam! Die oft als abgehoben bezeichnete Philosophie kann uns bei diesem Wachen helfen und dabei ihre eminent praktische Funktion beweisen.

Matthias Bertschinger, Nunningen

Dienstag, 2. Oktober 2012

Haut ab!

Dieses Wortspiel ist der GENIALE Titel eines Buches des Judaistik-Professors Alfred
Bodenheimer aus Basel über die Juden und die Brit Mila bzw. über die unsägliche
Beschneidungsdebatte. Genial, weil es unser Ressentiment und den Vorwand für unser
Ressentiment auf einen Nenner bringt.
Der Schock, so Alfred Bodenheimer, ist, wie schnell sich die grosse Menge der Bevölkerung gegen eine Minderheit mobilisieren lässt. Mir sitzt dieser Schock allerdings nicht erst seit dem "Kölner Urteil" in den Knochen, sondern seit dem 29. 11. 09: Seit dem Tag, an welchem wir Schweizerinnen und Schweizer die Minarettinitiative angenommen haben.