Samstag, 30. November 2013

Economiesuisse investiert Millionen in heisse Luft

Infoplattform Infosperber, 9. Dezember 2013

In den Debatten rund um die Masseneinwanderungsinitiative und um Europapolitik generell kommt kaum zur Sprache, welchen Wert der europäische Integrationsprozess als solcher für die Menschen hat. Gefährdet sind, so die "Botschaft" der Gegner der Initiative, unsere "wirtschaftliche Interessen". Die Idee, die hinter der EU und dem europäischen Integrationsprozess steckt, und dass auch diese gefärdet sein könnte, ist nicht einmal Thema. Der Gedanke, dass erst ein „Souveränitätsverlust“ die Menschen wieder handlungsfähig macht, erscheint heute als völlig abstrus. Dass dieser (obendrein blasphemische) Gedanke als abstrus erscheint, zeigt, wie weit entfernt wir von jener Debatte sind, die in unserem ureigensten Interesse längstens geführt werden müsste.

Inwiefern sich die Abgabe von Souveränität an supranationale Organisationen als Segen erweisen kann, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Vor 167 Jahren stand Glarus vor ähnlichen Problemen wie wir heute: Das Volk wurde, wie Linke sagen würden, erpresst. 1846, zwei Jahre vor der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates, warnte der Verband der Glarner Textilfabrikanten vor einem Ja an der Landsgemeinde zum „extremen Verbot“ der Kinderarbeit unter 12 Jahren. Schon damals wurde, wenn auch nicht der Sowjet-Kommunismus (Marx war damals erst 28 Jahre alt, Lenin noch gar nicht geboren), so doch der Teufel mit Suggestivfragen an die Wand gemalt : „Abwanderung der Fabrikherren nach St. Gallen?“, „Steuerausfälle bis zu 400‘000 Batzen?“, „Arbeitslosigkeit wie in Zürich?“

Trotz der drohenden Abwanderung von Unternehmen – und anders als die 1:12-Initiative – nahm das Volk von Glarus damals das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren in mechanischen Spinnereien an. 1856 folgte die Ausweitung des Arbeitsverbotes für Kinder unter zwölf Jahren auf alle Fabrikbetriebe, 1858 das Verbot der Sonntagsarbeit. Im Bereich der Sozialgesetzgebung nahm Glarus damals eine Pionierrolle ein (bzw. legte ein „realitätsfernes Gutmenschentum“ und eine „ideologische Gesinnung“ an den Tag).
 
Glarus als Ausnahme bestätigt die Regel: Viele Errungenschaften des Sozialstaates konnten sich erst nach der Übernahme der Gesetzgebungskompetenz durch das „Monster“ Schweizerischer Bundesstaat durchsetzen. Das Beispiel Steuerwettbewerb zeigt: Wo keine oder keine weitreichende Rechtsvereinheitlichung erfolgte, blieben Gebietskörperschaften und ihre Bürger durch Mächtige erpressbar.

In einer sich globalisierenden Welt, in der Räume kleiner werden, können Probleme oft nur noch gemeinsam gelöst werden, d.h. durch eine Eindämmung des Standortwettbewerbs und seines „race to the bottom“, in dem gewinnt, wer sich gegenüber Mensch und Umwelt rücksichtslos verhält. Gegen Erpressung hilft oft nur die Abgabe von Regelungskompetenz an die nächsthöhere Ebene: an den Bund oder – „Landesverrat!“ – an supranationale Organisationen wie die EU.

Charakteristisch für den Europäischen Binnenmarkt, an welchem wir Schweizer uns via die Notlösung „Bilaterale“ beteiligen, ist so gesehen weniger dessen Freiheit, sondern – umgekehrt! – dessen Begrenzung, die die Freiheit erst ermöglicht: Charakteristisch sind die vielen „Brüsseler Diktate“, etwa Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards. Das Entscheidende an solchen supranationalen Rahmenbedingungen des freien Marktes ist, dass sie sich dadurch gegen Erpressung und Unterbietung (drohende Abwanderung von Firmen oder Steuerzahlern) immunisieren, dass es eben gemeinsame Regeln sind.

Die Masseneinwanderungsinitiative hat zweifellos mit sozialen und ökologischen Fragen zu tun (Lohndumping, Siedlungsdruck auf die Natur etc.). Wer diese Initiative annimmt, schadet aber seinen berechtigten Anliegen! Angriffsziel ist die Personenfreizügigkeit (PFZ) und mit der PFZ der gemeinsame Rechtsraum des europäischen Binnenmarktes als solcher. Der Angriff richtet sich damit wie dargelegt gegen die Voraussetzungen, um überhaupt handlungsfähig zu sein und Verhältnisse gemeinsam mit anderen zu verändern. Gutgläubige, die eine Abgabe von Regelungskompetenzen („Souveränität“) nach oben bisher kategorisch ablehnen, überlegen sich besser zweimal, wes' Lied sie eigentlich singen.

Am 2. Februar geht es nicht in erster Linie um die Zuwanderung. Und es geht insbesondere nicht nur um wirtschaftliche Interessen, wie uns Economiesuisse weismachen will. Die Personenfreizügigkeit ist nicht einfach eine „Kröte“, die wir im Interesse einer prosperierenden Wirtschaft zu schlucken hätten, sondern eine neu gewonnene Grundfreiheit, ein verteidigungswürdiger Wert an sich.

Mit ihrer Lesart verfehlt Economisuisse nicht nur kategorial die grundlegende Fragestellung im Zusammenhang mit der Masseneinwanderungsinitiative (und beleidigt damit die Idee, die hinter dem europäischen Einigungsprozess steht), sondern manipuliert den Stimmbürger genauso wie die Initianten, welche wahlweise Verlustängste oder Racheimpulse bedienen. Damit gefährdet Economisuisse fahrlässig ihren Abstimmungserfolg. Denn die Frage, ob der kurzfristige wirtschaftliche Nutzen stets das Mass aller Dinge sein soll, stellen sich viele Stimmbürger und Stimmbürgerinnen völlig zu Recht!

Weshalb trotzdem ein Nein zur Masseneinwanderungsinitiative? Am 9. Februar, aber auch in weiteren, kommenden Abstimmungen (Ecopop-Initiative, Kroatien-Referendum), die sich gegen die Personenfreizügigkeit richten, geht es um weitaus mehr als den kurzfristigen, ökonomischen Nutzen. Es geht um Fragen, die über das hinausweisen, was sich einem ökonomistischen Nützlichkeitsdenken mit Blick auf das Eigene erschliesst. Es geht um die Frage, inwiefern der europäische Integrationsprozess als solcher im Interesse von uns und aller Europäer und Europäerinnen ist – gerade angesichts der gegenwärtigen Rückschläge („Krise Europas“, „Eurokrise“). Denn für diese Rückschläge sind massgeblich protektionistische und nationalistische Tendenzen in vielen Staaten Europas ursächlich: Die populistische Bedienung der eigenen Klientel, und weniger Fehlentscheide eines "Bürokratiemonsters", das weniger Beamte zählt als beispielsweise die Stadtverwaltung von München.

Das „Wir-brauchen-die-ausländischen-Arbeitskräfte“-Gerede, dem fast ausnahmslos alle Gegner der Initiative frönen, lenkt von einer viel grundlegenderen Debatte ab, die zum Schaden von uns allen noch immer kaum geführt wird. Im Raum steht die Frage nach einer Alternative zum europäischen (und oft mühsamen) Integrationsprozess, an welchem wir qua „Bilaterale“ oder Mitgliedschaft im Europarat partizipieren. Die Losung „alle gegen alle“ oder „jeder für sich“ mit wechselnden Allianzen ist im Atomzeitalter keine Option mehr, und unter ethischen Gesichtspunkten war sie es noch nie.

Economiesuisse, welcher die Führung im Abstimmungskampf übertragen wurde, hat es verpasst, politische Akteure wie die „Neue Europäische Bewegung Schweiz“ (NEBS) mit an Bord zu holen, die mit Argumenten überzeugen anstatt nur mit Phrasen („Bewährte Bilaterale“, „Erfolgsmodell Schweiz“) überreden wollen. Damit vernachlässigt Economiesuisse sträflich ein Wählersegment, das nicht einfach mit PR abgespeist werden will. Der Economiesuisse selbst fehlen umgekehrt die Argumente, weil sie selbst nicht weiss, was sie will: Öffnung oder Abwehr? Freier Markt und damit "fremde Richter" oder doch lieber Steuerdumping auf Kosten unserer Nachbarn? Diese offensichtliche Absenz von Prinzipien und Überzeugungen ist Ursache des Glaubwürdigkeitsverlusts von Economiesuisse, der sich am 9. Februar fatal auswirken könnte.

Mittwoch, 13. November 2013

Eine schwache EU nützt denjenigen, die sich um Umwelt und Soziales foutieren.

TagesWoche online, 18. Nov. 2013; bz/Nordwestschweiz, 19. Nov. 2013

Europapolitik auf Abwegen? Lesung und Diskussion mit Robert Menasse

Im Jahr 2014 entscheidet sich, ob die Schweiz Europa und die Idee, die hinter einem vereinten Europa steht, stärkt oder schwächt. Kroatien-Referendum, Masseneinwanderungs- und Ecopop-Initiative versprechen Abhilfe gegen ausländische Konkurrenz, Lohndumping, Wohnungsnot, Siedlungsdruck. Wie den Medien entnommen werden kann, sind weitere, teils grüne Initiativen in Vorbereitung, die sich gegen den Freihandel richten. Es machen also nicht nur rechtskonservative Kreise gegen mehr Europa mobil: Tierschützer befürworten einen Importstopp von Billigfleisch anstatt sich international zu vernetzen und auf europäischer Ebene für schärfere Tierschutzbestimmungen zu kämpfen. Globalisierung, nicht aber zu billige Energie wird für den Niedergang der einheimischen, verbrauchernahen Produktion verantwortlich gemacht. Schliesslich spielen Linke die flankierenden Massnahmen gegen das Prinzip der Personenfreizügigkeit aus. Die Zahl derer, die in der EU nur ein Instrument des Neoliberalismus sehen, wächst. In Vergessenheit gerät, dass sich die Idee hinter Europa gerade gegen eine schrankenlose Konkurrenz zwischen Nationalstaaten wendet.

Verliererin des gegenwärtigen Gärtli-Denkens ist einerseits die Wirtschaft. Dabei haben sich die Bürgerlichen selbst in die verfahrene Situation hineinmanövriert, in welcher sie sich befinden. Wer sich mit dem lapidaren Hinweis auf den freien Wettbewerb weigert, über wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie (weltweite) Verteilungsgerechtigkeit, Steuerharmonisierung oder Sozial- und Umweltstandards überhaupt zu reden, öffnet irrationalen Angstbewältigungsstrategien Tür und Tor. Daniel Binswanger bemerkt zu Recht: "Die Strategie der Mitteparteien ist hochriskant. Wer sozialpolitisch keine Konzessionen machen will, dem können gegen den auftrumpfenden Nationalismus ganz plötzlich die Argumente fehlen". Die aufgewärmte Apfelbäumchen-Kampagne "bewährte Bilaterale" von Economiesuisse führt diesen Argumentationsnotstand vor Augen.

Andererseits macht uns die grassierende Angst vor Öffnung alle zu Verlierern: Manche Progressive vergessen, dass Angriffe gegen einen offenen, europäischen Markt zugleich Angriffe gegen dessen steuer-, sozial- und umweltpolitischen Rahmenbedingungen sind. Diese immunisieren sich aber gerade dadurch gegen Umwelt- und Sozialdumping, dass es eben gemeinsame Rahmenbedingungen sind: Ein Konzern, der sich an gemeinsame Steuerstandards halten muss, kann nicht erpresserisch mit Wegzug in ein anderes Land drohen, um seine gerechte Besteuerung zu verhindern. Durch ihr Abseitsstehen behindert die Schweiz die Weiterentwicklung solcher gemeinsamer Rahmenbedingungen.

Nutzniesser einer Politik, die keine gerechten Rahmenbedingungen zu schaffen vermag, sind einige Wenige (Rechtskonservative sprechen nicht von Rahmenbedingungen, sondern von Brüsseler "Regulierungswut"). Sie polemisieren nicht von ungefähr gegen alles Europäische und Fremde: Ihre Macht wird durch mehr Miteinander begrenzt. Auf lange Frist verlieren aber auch sie. Selbst wenn es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis zu Bewusstsein kommt, in welche Sackgasse eine nationalistische Politik führt – Fakt bleibt: In einer globalisierten Welt lassen sich viele Probleme umwelt- und sozialpolitischer Art nur noch gemeinsam mit anderen Staaten lösen, also auf supranationaler Ebene und unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Umweltzerstörung – und nicht nur sie! – macht vor keiner Grenze Halt.

Zudem sind die gegenwärtigen Herausforderungen weit weniger technisch-naturwissenschaftlicher als philosophischer Natur. Verheerend für eine intakte Zukunft unserer Kinder erweist sich eine Verwechslung von Ursache und Wirkung im Denken: Das kleinkarierte Gerede von der Unfähigkeit, Probleme auf internationaler Ebene zu lösen, erzeugt diese Unfähigkeit erst. “Fremde Richter”, “Souveränitätsverlust”, “Bürokratiemonster” – Schlechtmacherei bestimmt den europapolitischen Diskurs. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse beklagt einen solchen Missbrauch der Sprache zur Diskreditierung internationaler Zusammenarbeit: “Was auf nationaler Ebene einfach ‘Gesetzgebung’ heisst, wird im europäischen Einigungsprozess pejorativ zum ‘Regulierungswahn’”. Es lohnt sich, ihm zuzuhören: Am 21. November 19.30 Uhr liest Robert Menasse auf Einladung der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS) und der Regio Basiliensis im Basler Volkshaus aus seinem Buch “Der Europäische Landbote”. Die anschliessende Diskussion moderiert Georg Kreis. Der Eintritt ist frei, für ein Apéro ist gesorgt.