Montag, 16. Juni 2014

80 Jahre Europäische Bewegung Schweiz

TagesWoche Printausgabe, 27. Juni 2014,
Newsletter NEBS, ebenfalls 27. Juni 2014 (ins Französische übersetzt von Max Ambühl)


Heute vor 80 Jahren, am 24. Juni 1934, wurde im Basler Kino „Capitol“ die „Europa-Union,  Schweizerische Bewegung für die Einigung Europas“ (EUS) gegründet, Vorgänger-Organisation der „Neuen Europäischen Bewegung Schweiz“ (NEBS), die sich heute für eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz einsetzt. Es war nie leicht, Anhänger für die Anliegen der Europa-Bewegung zu finden. Im Privaten machte der materielle Wohlstand der Nachkriegszeit zufrieden, und in der Aussenpolitik galt die Maxime der integralen Neutralität, die nach Einschätzung der Mehrheit weder einen Beitritt zur UNO noch zum Europarat beziehungsweise zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zuliess. Die EU gab es 1934 noch gar nicht.


Sendungsbewusstsein und geistige Landesverteidigung

Die EUS, deren führende Mitglieder noch bis 1952 von der Bundesanwaltschaft überwacht wurden, setzte sich die Gründung der „Vereinigten Staaten Europas“ nach dem Vorbild der Schweiz zum Ziel. Sie war einem föderalistischen „Europa von unten“ verpflichtet – ganz im Gegensatz zu den grosseuropäischen Träumen von der anderen Rheinseite um das Gründungsjahr 1934. In ihrem ersten Programm forderte die „Europa-Union“ die Schaffung einer europäischen Bundesverfassung mit einem Bundesparlament, einem Bundesgericht und gewählten Bundesräten. „Es war eine Mischung aus Sendungsbewusstsein und geistiger Landesverteidigung, welche charakteristisch für den Europagedanken der Schweizer Bewegung in den 30er Jahren war und in der gleichzeitigen Erhebung der Schweiz zum Vorbild und Sonderfall europäischer Staaten mündete“, schrieb Thomas Brückner, der die Geschichte der Europabewegung in der Schweiz erforschte. Die Propagierung der Schweiz als Vorbild für ein geeintes Europa diente wohl immer auch einer Festigung der Willensnation gegen innen.

Europa „von unten“

Richtungskämpfe innerhalb der Länder übergreifenden Europa-Bewegungen prägten die Zwischenkriegszeit im letzten Jahrhundert:  „Institutionalisten“ wollten ein Europa „von oben nach unten“ aufbauen, „Konstitutionalisten“ propagierten ein Europa „von unten nach oben“. Zwar scheiterten alle bisherigen Versuche, Europa gewaltsam zu einigen. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an Napoleon und dessen Bedeutung für das Bewusstsein eines gemeinsamen geschichtlichen, kulturellen und juristischen Erbes. Doch auch die „Konstitutionalisten“ beziehungsweise „Föderalisten“ – und mit ihnen die 1934 gegründete EUS – scheiterten mit ihrer Idee, den Europäischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Europa-Verfassung zu beginnen und Europa „von unten nach oben“ aufzubauen, also mit einer Volksabstimmung in den zu vereinigenden Ländern.

Europa „von oben“

Durchgesetzt haben sich bekanntlich die „Funktionalisten“ beziehungsweise „Institutionalisten“, die eine europäische Einigung durch Schaffung von Institutionen (z.B. Montanunion) herbeiführen wollten: Wirtschaftliche Einbindung sollte mehr oder weniger automatisch zu einem politischen Zusammenschluss führen. Doch es wäre zu kurz gegriffen, von einem Sieg der Wirtschaft über die Politik zu sprechen, von einem Europa volksferner Technokraten oder von Europa als einem neoliberalen Projekt, verhindern doch gerade die gemeinsamen Rahmenbedingungen, also das EU-Recht, dass die Wirtschaft diejenigen Länder gegeneinander ausspielen kann, die sich dieses gemeinsame Recht geben (oder sich diesem wie die Schweiz vertraglich unterstellen). Europa nahm den mühsamen, technokratischen und wenig faszinierenden Weg der sektoriellen Teilintegration – ausgehend von beschränkten Gemeinschaftsprojekten (Kohle, Stahl, Atomenergie, Handel und schliesslich Währungsunion). Die Verfassung steht nicht am Anfang der europäischen Integration, sondern allenfalls am Schluss.


Von „suprakantonal“ zu „supranational“

Die Gründung der Schweiz erfolgte ebenfalls massgeblich „von oben nach unten“. Nach dem Sonderbundkrieg lehnten die (Teil-)Kantone SZ, ZG, VS, UR, NW, OW, AI und TI die neue Bundesverfassung ab. In FR brachte man nicht den Mut auf, das Volk über einen CH-Beitritt abstimmen zu lassen. Die Einschränkung der Autonomie der Kantone (kein Mensch würde heute noch von einem Souveränitätsverlust reden!) führte dennoch nicht dazu, dass die Macht der Mächtigen zunahm sondern im Gegenteil die Freiheit der Menschen. Nachdem die Rechtsetzungskompetenz im Arbeitsrecht von den Kantonen zum Bund überging, konnten Fabrikherren beispielsweise nicht mehr mit einem Wegzug in einen Kanton drohen, der noch an der Kinderarbeit festhielt, um ein Volks-Nein zum Verbot der Kinderarbeit im eigenen Kanton zu erpressen (dieser „Angst-vor-Arbeitsplatzverlust“-Trick funktioniert leider heute noch). Mit dem neuen „suprakantonalen“ Recht auf Bundesebene nahm die Erpressbarkeit des Volkes ab. Genau dieselbe Freiheitschance bietet heute das supranationale EU-Recht, an welchem diejenigen kein gutes Haar lassen, die die Erpressbarkeit der Politik als „Standortwettbewerb“ schönreden – als wäre es der Weisheit letzter Schluss, dass nicht nur Wirtschaftsakteure, sondern auch Gebietskörperschaften einander konkurrenzieren. Das einseitige Bild von einem Europa der Mächtigen soll über die Freiheitschancen hinwegtäuschen, die im europäischen Einigungsprozess liegen. Dass dieser Einigungsprozess „von oben“ angestossen wurde, macht die EU aber nicht automatisch undemokratisch, im Gegenteil: Die EU ist – ähnlich wie damals die Gründung der Schweiz – schon von der Anlage her ein Demokratisierungsprojekt im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.


Europa ist nie fertig gebaut

Heute gälte es, an diesem gemeinsamen Europa mitzubauen, das seit der Gründung der EUS vor 80 Jahren Wirklichkeit geworden ist. Die EU ist nie fertig gebaut , sie ist genauso ein „ewig unfertiges Werk“ wie die Schweiz, und ihr eigentlicher Leitspruch ist, wie Günther Nonnenmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb: Der Weg ist das Ziel! Die alten Richtungskämpfe innerhalb der Europa-Bewegung sind Geschichte, es geht nicht mehr um die Frage, wie man den Integrationsweg beginnt, sondern wie man auf dem nun eingeschlagenen Weg weitergeht. Eine Vertiefung der Demokratie erfolgte so oder so (und entgegen dem Diktum vom Demokratiedefizit der EU) durch die „Transnationalisierung“ der Demokratie, also durch die Sprengung ihres nationalen Korsetts – ganz nach dem Vorbild der Schweiz, die die europäische Einigung im Kleinen vorgemacht hat. Von dieser Freiheitschance in einer zunehmend globalisierten Welt lenken rechte Demagogen um Blocher ab mit ihrem starrsinnigen Pochen auf ungeteilte Souveränität, die es nur als Illusion gibt.

Vorbild Schweiz

Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, Fürsprecherin einer aktiven Aussenpolitik der Schweiz, forderte am 1. Juni an einer Veranstaltung in Basel eine „Verschweizerung der EU“. Diese Forderung ist teilweise berechtigt (doch was die direktdemokratisch kontrollierte Politik leisten kann, wird laut dem Historiker Thomas Maissen heute massiv überschätzt), teilweise überholt und jedenfalls alt. Als Umschlagplatz für Europakonzepte propagierte die Schweiz immer die Übernahme des helvetischen Föderalismus, hielt sich im Internationalen aber so weit wie möglich aus dem Politischen heraus. 1992 musste der ehemalige EUS-Präsident Jean-Pascal Delamuraz als Bundesrat zur Ablehnung des EWR Stellung nehmen, heute wünschten sich wohl viele, wir hätten den EWR damals trotz fehlender Mitspracherechte angenommen. Ihrem eigenen Anspruch an die Demokratie genügt die Schweiz jedoch nur, wenn sie stimmberechtigtes Vollmitglied der EU wird – auch wenn es bis dahin noch ein langer Weg sein sollte. Vorbildlich handelt die Schweiz gewiss nicht, indem sie von aussen besserwisserisch gute Ratschläge für eine Integration erteilt, welcher sie sich selbst entzieht. Vorbildlich wäre, auf EU-Ebene nachzuholen, was die Schweiz der EU im Kleinen vorgemacht hat. Dafür bräuchte es aber erst die Einsicht, dass die europäische Realität das Vorbild Schweiz längst überholt hat, und zur Schaffung einer solchen Einsicht braucht es Medien, die sich differenziert mit der Frage auseinanderzusetzen, in welchen Bereichen es zu „entglobalisieren“ und in welchen Bereichen es umgekehrt zu „universalisieren“ gilt („Subsidiaritätsprinzip“).


Mehr Europa bedeutet nicht weniger Freiheit

Ziel der heutigen Europa-Bewegung NEBS ist es aufzuzeigen, dass mehr Europa nicht zu weniger Unabhängigkeit führt, sondern im Gegenteil zu mehr Freiheit – auch wenn dies nicht einfach zu vermitteln ist in Zeiten, in denen sich rechte und linke Ideologen über dem Grab eines europäischen Bewusstseins die Hand reichen. Um das Blatt zu wenden braucht es mehr Menschen, die sich gegen diesen reaktionären Trend stellen und Europa wieder eine Stimme geben, auch wenn die EU – ebenso wie die Schweiz – nie perfekt sein wird und auch nie perfekt sein kann. Wer Europa totsagt, weil es nie perfekt sein wird, verhindert zum Schaden aller nur die beste Möglichkeit, die stets von neuem realisiert werden muss. Der Ökonom Thomas Straubhaar schrieb am 22.  Mai 2014 in der „bz Basel/Nordwestschweiz“: „Das heutige Europa ist weit weg davon, perfekt zu sein. Aber es ist besser als alles, was Europa jemals hatte“.

Weltföderalismus

Will die EU nicht die Prinzipien verraten, auf denen sie selbst beruht, muss sie sich ihrerseits für eine demokratisch verfasste Weltbürgerschaft mit einer globalen Verfassungsordnung einsetzen – dereinst vielleicht mit Hilfe des EU-Mitglieds Schweiz. Der Prozess der Universalisierung von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten jenseits von Landesgrenzen als Prinzipien des Politischen holte in der Menschheitsgeschichte mit der Französischen Revolution erstmals richtig Schwung. Dieser Befreiungsprozess – psychologisch gesprochen letztlich ein ewiger Kampf gegen die Projektion des erschreckenden Aspekts des Daseins auf andere, in denen sich dieser Aspekt bequem bekämpfen lässt – ist ein zivilisatorischer Kraftakt, der immer Menschen braucht, die zusammen mit Gleichgesinnten die besten Mittel und Wege suchen, um ein letztlich nie zu erreichendes Ziel zu erreichen.

Matthias Bertschinger
Präsident NEBS Sektion Basel


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