Samstag, 28. Juni 2014
Vom Beweis der Beschränkung, die man weit von sich weist...
bzBasel, 28. Juni 2014
Philipp Mäder schreibt, es gebe keine Vorteile, welche die Nachteile der Personenfreizügigkeit aufwiegen. Diese Aussage zeugt gerade von jener Einschränkung des Blickfelds, von der Philipp Mäder sich in seiner Polemik beklagt, dass sie ihm vorgehalten wird: Wenn man die Personenfreizügigkeit isoliert und ausschliesslich aus nationaler Perspektive betrachtet, dringt man zu den zentralen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit stellen, noch nicht einmal vor. Die Personenfreizügigkeit ist eine der Grundfreiheiten, auf denen der real existierende europäische Integrationsprozess beruht. Dieser Integrationsprozess ist die Antwort Europas auf die Menschheitskatastrophen des 20. Jahrhunderts, und sein Wert für uns alle kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er ist unter dem Strich eine Erfolgsgeschichte, auch wenn man überall liest, was die EU alles falsch macht, und fast nirgends, was die EU alles richtig macht und wie die Schweiz davon profitiert (die bz bildet diesbezüglich eine löbliche Ausnahme). Mit gemeinsamen Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialstandards nimmt die Freiheit der Menschen in Europa tendenziell zu, auch wenn es bei solchen Veränderungsprozessen einfacher ist, auf den Nachteilen herumzureiten. Empörung lässt sich leider einfacher bewirtschaften als der Freiheitsgewinn, der für Marktschreier in dem Masse nichts mehr hergibt, wie er selbstverständlich geworden ist.
Montag, 16. Juni 2014
80 Jahre Europäische Bewegung Schweiz
TagesWoche Printausgabe, 27. Juni 2014,
Newsletter NEBS, ebenfalls 27. Juni 2014 (ins Französische übersetzt von Max Ambühl)
Heute vor 80 Jahren, am 24. Juni 1934, wurde im Basler Kino „Capitol“ die „Europa-Union, Schweizerische Bewegung für die Einigung Europas“ (EUS) gegründet, Vorgänger-Organisation der „Neuen Europäischen Bewegung Schweiz“ (NEBS), die sich heute für eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz einsetzt. Es war nie leicht, Anhänger für die Anliegen der Europa-Bewegung zu finden. Im Privaten machte der materielle Wohlstand der Nachkriegszeit zufrieden, und in der Aussenpolitik galt die Maxime der integralen Neutralität, die nach Einschätzung der Mehrheit weder einen Beitritt zur UNO noch zum Europarat beziehungsweise zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zuliess. Die EU gab es 1934 noch gar nicht.
Newsletter NEBS, ebenfalls 27. Juni 2014 (ins Französische übersetzt von Max Ambühl)
Heute vor 80 Jahren, am 24. Juni 1934, wurde im Basler Kino „Capitol“ die „Europa-Union, Schweizerische Bewegung für die Einigung Europas“ (EUS) gegründet, Vorgänger-Organisation der „Neuen Europäischen Bewegung Schweiz“ (NEBS), die sich heute für eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz einsetzt. Es war nie leicht, Anhänger für die Anliegen der Europa-Bewegung zu finden. Im Privaten machte der materielle Wohlstand der Nachkriegszeit zufrieden, und in der Aussenpolitik galt die Maxime der integralen Neutralität, die nach Einschätzung der Mehrheit weder einen Beitritt zur UNO noch zum Europarat beziehungsweise zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zuliess. Die EU gab es 1934 noch gar nicht.
Sendungsbewusstsein und geistige Landesverteidigung
Die EUS, deren führende Mitglieder noch bis 1952 von der
Bundesanwaltschaft überwacht wurden, setzte sich die Gründung der „Vereinigten
Staaten Europas“ nach dem Vorbild der Schweiz zum Ziel. Sie war einem
föderalistischen „Europa von unten“ verpflichtet – ganz im Gegensatz zu den
grosseuropäischen Träumen von der anderen Rheinseite um das Gründungsjahr 1934.
In ihrem ersten Programm forderte die „Europa-Union“ die Schaffung einer
europäischen Bundesverfassung mit einem Bundesparlament, einem Bundesgericht
und gewählten Bundesräten. „Es war eine Mischung aus Sendungsbewusstsein und
geistiger Landesverteidigung, welche charakteristisch für den Europagedanken der
Schweizer Bewegung in den 30er Jahren war und in der gleichzeitigen Erhebung
der Schweiz zum Vorbild und Sonderfall europäischer Staaten mündete“, schrieb
Thomas Brückner, der die Geschichte der Europabewegung in der Schweiz erforschte.
Die Propagierung der Schweiz als Vorbild für ein geeintes Europa diente wohl
immer auch einer Festigung der Willensnation gegen innen.
Europa „von unten“
Europa „von unten“
Richtungskämpfe innerhalb der Länder übergreifenden
Europa-Bewegungen prägten die Zwischenkriegszeit im letzten Jahrhundert: „Institutionalisten“ wollten ein Europa „von
oben nach unten“ aufbauen, „Konstitutionalisten“ propagierten ein Europa „von
unten nach oben“. Zwar scheiterten alle bisherigen Versuche, Europa gewaltsam zu
einigen. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an Napoleon und dessen
Bedeutung für das Bewusstsein eines gemeinsamen geschichtlichen, kulturellen
und juristischen Erbes. Doch auch die „Konstitutionalisten“ beziehungsweise
„Föderalisten“ – und mit ihnen die 1934 gegründete EUS – scheiterten mit ihrer
Idee, den Europäischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer
Europa-Verfassung zu beginnen und Europa „von unten nach oben“ aufzubauen, also
mit einer Volksabstimmung in den zu vereinigenden Ländern.
Europa „von oben“
Durchgesetzt haben sich bekanntlich die „Funktionalisten“ beziehungsweise
„Institutionalisten“, die eine europäische Einigung durch Schaffung von
Institutionen (z.B. Montanunion) herbeiführen wollten: Wirtschaftliche
Einbindung sollte mehr oder weniger automatisch zu einem politischen
Zusammenschluss führen. Doch es wäre zu kurz gegriffen, von einem Sieg der
Wirtschaft über die Politik zu sprechen, von einem Europa volksferner
Technokraten oder von Europa als einem neoliberalen Projekt, verhindern doch
gerade die gemeinsamen Rahmenbedingungen, also das EU-Recht, dass die
Wirtschaft diejenigen Länder gegeneinander ausspielen kann, die sich dieses
gemeinsame Recht geben (oder sich diesem wie die Schweiz vertraglich
unterstellen). Europa nahm den mühsamen, technokratischen und wenig
faszinierenden Weg der sektoriellen Teilintegration – ausgehend von
beschränkten Gemeinschaftsprojekten (Kohle, Stahl, Atomenergie, Handel und
schliesslich Währungsunion). Die Verfassung steht nicht am Anfang der
europäischen Integration, sondern allenfalls am Schluss.
Von „suprakantonal“ zu „supranational“
Die Gründung der Schweiz erfolgte ebenfalls massgeblich „von
oben nach unten“. Nach dem Sonderbundkrieg lehnten die (Teil-)Kantone SZ, ZG,
VS, UR, NW, OW, AI und TI die neue Bundesverfassung ab. In FR brachte man nicht
den Mut auf, das Volk über einen CH-Beitritt abstimmen zu lassen. Die
Einschränkung der Autonomie der Kantone (kein Mensch würde heute noch von einem
Souveränitätsverlust reden!) führte dennoch nicht dazu, dass die Macht der
Mächtigen zunahm sondern im Gegenteil die Freiheit der Menschen. Nachdem die Rechtsetzungskompetenz
im Arbeitsrecht von den Kantonen zum Bund überging, konnten Fabrikherren beispielsweise
nicht mehr mit einem Wegzug in einen Kanton drohen, der noch an der
Kinderarbeit festhielt, um ein Volks-Nein zum Verbot der Kinderarbeit im
eigenen Kanton zu erpressen (dieser „Angst-vor-Arbeitsplatzverlust“-Trick funktioniert
leider heute noch). Mit dem neuen „suprakantonalen“ Recht auf Bundesebene nahm
die Erpressbarkeit des Volkes ab. Genau dieselbe Freiheitschance bietet heute das
supranationale EU-Recht, an welchem diejenigen kein gutes Haar lassen, die die Erpressbarkeit
der Politik als „Standortwettbewerb“ schönreden – als wäre es der Weisheit
letzter Schluss, dass nicht nur Wirtschaftsakteure, sondern auch Gebietskörperschaften
einander konkurrenzieren. Das einseitige Bild von einem Europa der Mächtigen soll
über die Freiheitschancen hinwegtäuschen, die im europäischen Einigungsprozess
liegen. Dass dieser Einigungsprozess „von oben“ angestossen wurde, macht die EU
aber nicht automatisch undemokratisch, im Gegenteil: Die EU ist – ähnlich wie
damals die Gründung der Schweiz – schon von der Anlage her ein
Demokratisierungsprojekt im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.
Europa ist nie fertig gebaut
Heute gälte es, an diesem gemeinsamen Europa mitzubauen, das
seit der Gründung der EUS vor 80 Jahren Wirklichkeit geworden ist. Die EU ist
nie fertig gebaut , sie ist genauso ein „ewig unfertiges Werk“ wie die Schweiz,
und ihr eigentlicher Leitspruch ist, wie Günther Nonnenmacher in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung schrieb: Der Weg ist das Ziel! Die alten Richtungskämpfe
innerhalb der Europa-Bewegung sind Geschichte, es geht nicht mehr um die Frage,
wie man den Integrationsweg beginnt, sondern wie man auf dem nun eingeschlagenen
Weg weitergeht. Eine Vertiefung der Demokratie erfolgte so oder so (und
entgegen dem Diktum vom Demokratiedefizit der EU) durch die „Transnationalisierung“
der Demokratie, also durch die Sprengung ihres nationalen Korsetts – ganz nach
dem Vorbild der Schweiz, die die europäische Einigung im Kleinen vorgemacht
hat. Von dieser Freiheitschance in einer zunehmend globalisierten Welt lenken
rechte Demagogen um Blocher ab mit ihrem starrsinnigen Pochen auf ungeteilte
Souveränität, die es nur als Illusion gibt.
Vorbild Schweiz
Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, Fürsprecherin einer
aktiven Aussenpolitik der Schweiz, forderte am 1. Juni an einer Veranstaltung
in Basel eine „Verschweizerung der EU“. Diese Forderung ist teilweise
berechtigt (doch was die direktdemokratisch kontrollierte Politik leisten kann,
wird laut dem Historiker Thomas Maissen heute massiv überschätzt), teilweise
überholt und jedenfalls alt. Als Umschlagplatz für Europakonzepte propagierte die
Schweiz immer die Übernahme des helvetischen Föderalismus, hielt sich im
Internationalen aber so weit wie möglich aus dem Politischen heraus. 1992
musste der ehemalige EUS-Präsident Jean-Pascal Delamuraz als Bundesrat zur
Ablehnung des EWR Stellung nehmen, heute wünschten sich wohl viele, wir hätten
den EWR damals trotz fehlender Mitspracherechte angenommen. Ihrem eigenen
Anspruch an die Demokratie genügt die Schweiz jedoch nur, wenn sie stimmberechtigtes
Vollmitglied der EU wird – auch wenn es bis dahin noch ein langer Weg sein
sollte. Vorbildlich handelt die Schweiz gewiss nicht, indem sie von aussen besserwisserisch
gute Ratschläge für eine Integration erteilt, welcher sie sich selbst entzieht. Vorbildlich wäre, auf EU-Ebene nachzuholen, was die Schweiz der EU im
Kleinen vorgemacht hat. Dafür bräuchte es aber erst die Einsicht, dass die
europäische Realität das Vorbild Schweiz längst überholt hat, und zur Schaffung
einer solchen Einsicht braucht es Medien, die sich differenziert mit der Frage
auseinanderzusetzen, in welchen Bereichen es zu „entglobalisieren“ und in
welchen Bereichen es umgekehrt zu „universalisieren“ gilt
(„Subsidiaritätsprinzip“).
Mehr Europa bedeutet nicht weniger Freiheit
Ziel der heutigen Europa-Bewegung NEBS ist es aufzuzeigen,
dass mehr Europa nicht zu weniger Unabhängigkeit führt, sondern im Gegenteil zu
mehr Freiheit – auch wenn dies nicht einfach zu vermitteln ist in Zeiten, in
denen sich rechte und linke Ideologen über dem Grab eines europäischen
Bewusstseins die Hand reichen. Um das Blatt zu wenden braucht es mehr Menschen,
die sich gegen diesen reaktionären Trend stellen und Europa wieder eine Stimme
geben, auch wenn die EU – ebenso wie die Schweiz – nie perfekt sein wird und
auch nie perfekt sein kann. Wer Europa totsagt, weil es nie perfekt sein wird,
verhindert zum Schaden aller nur die beste Möglichkeit, die stets von neuem
realisiert werden muss. Der Ökonom Thomas Straubhaar schrieb am 22. Mai 2014 in der „bz Basel/Nordwestschweiz“:
„Das heutige Europa ist weit weg davon, perfekt zu sein. Aber es ist besser als
alles, was Europa jemals hatte“.
Weltföderalismus
Will die EU nicht die Prinzipien verraten, auf
denen sie selbst beruht, muss sie sich ihrerseits für eine demokratisch
verfasste Weltbürgerschaft mit einer globalen Verfassungsordnung einsetzen –
dereinst vielleicht mit Hilfe des EU-Mitglieds Schweiz. Der Prozess der
Universalisierung von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten jenseits von
Landesgrenzen als Prinzipien des Politischen holte in der Menschheitsgeschichte
mit der Französischen Revolution erstmals richtig Schwung. Dieser Befreiungsprozess
– psychologisch gesprochen letztlich ein ewiger Kampf gegen die Projektion des
erschreckenden Aspekts des Daseins auf andere, in denen sich dieser Aspekt
bequem bekämpfen lässt – ist ein zivilisatorischer Kraftakt, der immer Menschen
braucht, die zusammen mit Gleichgesinnten die besten Mittel und Wege suchen, um
ein letztlich nie zu erreichendes Ziel zu erreichen.
Matthias Bertschinger
Präsident NEBS Sektion Basel
Präsident NEBS Sektion Basel
Quellen:
http://www.geschichte-schweiz.ch/bundesstaat.html
http://www.admin.ch/ch/d/pore/va/18480606/
http://www.europa.ch/Files/pdf/70jahre_nebs_kreis.pdf
http://www.europa.ch/Files/pdf/70jahre_nebs_geschichte.pdf
http://www.europa.ch/Files/pdf/nebs_brueckner_de.pdf
http://www.europa.ch/Files/pdf/hertenstein_jung_d_arsac.pdf
http://www.geschichte-schweiz.ch/bundesstaat.html
http://www.admin.ch/ch/d/pore/va/18480606/
http://www.europa.ch/Files/pdf/70jahre_nebs_kreis.pdf
http://www.europa.ch/Files/pdf/70jahre_nebs_geschichte.pdf
http://www.europa.ch/Files/pdf/nebs_brueckner_de.pdf
http://www.europa.ch/Files/pdf/hertenstein_jung_d_arsac.pdf
Mittwoch, 4. Juni 2014
Wagenburg
bz Basel, 5. Juni 2014
Die Wagenplatz-Leute verweigern sich einer Integration in die Gesellschaft, sie sagen der Normalität und Konformität den Kampf an und leben einen alternativen, selbstbestimmten Lebensentwurf. Man mag sich zu solchen experimentellen Formen des Zusammenlebens ausserhalb der Gesellschaft stellen, wie man will. Freier ist, wer sich als Teil der Gesellschaft versteht, die er verändern will. Auffallen aber muss, dass sich ausgerechnet diejenigen am lautesten über diese autonomen „Rechtsbrecher“ beschweren, die sich mit ihren Volksinitiativen um elementarste Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit foutieren, eigenes Recht über das Völkerrecht stellen, sich der Integration in die Weltgemeinschaft verweigern, ängstlich in Wagenburgmentalität verharren und die Schweiz als „Alternativmodell“ propagieren. An einem Psychologen wäre es zu klären, ob sie in den Wagenplatz-Leuten verachten, was sie selbst umtreibt.
Die Wagenplatz-Leute verweigern sich einer Integration in die Gesellschaft, sie sagen der Normalität und Konformität den Kampf an und leben einen alternativen, selbstbestimmten Lebensentwurf. Man mag sich zu solchen experimentellen Formen des Zusammenlebens ausserhalb der Gesellschaft stellen, wie man will. Freier ist, wer sich als Teil der Gesellschaft versteht, die er verändern will. Auffallen aber muss, dass sich ausgerechnet diejenigen am lautesten über diese autonomen „Rechtsbrecher“ beschweren, die sich mit ihren Volksinitiativen um elementarste Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit foutieren, eigenes Recht über das Völkerrecht stellen, sich der Integration in die Weltgemeinschaft verweigern, ängstlich in Wagenburgmentalität verharren und die Schweiz als „Alternativmodell“ propagieren. An einem Psychologen wäre es zu klären, ob sie in den Wagenplatz-Leuten verachten, was sie selbst umtreibt.
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