Freitag, 31. Mai 2013
Kein "privater Bereich"
Politische Parteien gehören entgegen alt Landrätin Helen Wegmüller nicht zum "privaten Bereich" (bz 31. Mai), auch wenn Parteien als Vereine (privatrechtlich) organisiert sind. Politisches und staatliches Handeln sind in einer demokratischen Republik gerade nicht Privatangelegenheit, sondern "Sache der Öffentlichkeit" (res publica). Der Staat ist nicht wie im Absolutismus Privatangelegenheit von Fürsten und Oligarchen. Die Bürger und Bürgerinnen haben ein Anrecht darauf zu erfahren, wer den Staat mit wieviel Geld lenkt (und Geld hat entgegen Christoph Buser von der Wirtschaftskammer einen grossen Einfluss auf die Politik, sonst würde er es nicht für den Wahlkampf ausgeben). Das Gerede vom "Einzelfall Schweiz" soll von Demokratiedefiziten ablenken, die eben auch "die beste Demokratie aller Zeiten" hat.
Sonntag, 19. Mai 2013
Der Mensch dahinter verschwindet
Schweiz am Sonntag, 26. Mai 2013
Die Idee, Alzheimer-Patienten, Burnout-Opfer oder Süchtige aus Kostengründen ins Ausland auszulagern, ist beklemmend. Beklemmend sind aber auch manche Leserbriefreaktionen (Schweiz am Sonntag, 19. Mai 2013), die unsere Bereitschaft spiegeln, alle möglichen gesellschaftlichen Probleme mit der Ausländerproblematik in Verbindung zu bringen: Drei von fünf Lesern würden lieber bei den Flüchtlingen als bei den Alten sparen. Indem sie so zwischen „eigenen“ und „fremden“ Hilfsbedürftigen unterscheiden, verbleiben sie im Paradigma eines Denkens, das sie zu Recht verurteilen: Hilfsbedürftige werden hauptsächlich als Kostenfaktoren und als Problem wahrgenommen, der Mensch dahinter verschwindet. Das Bild von Flüchtlingen, Sozialhilfebezügern, Süchtigen und anderen Hilfsbedürftigen als Schmarotzer oder als Kriminelle wird seit einigen Jahren gezielt aufgebaut. Seien wir wachsam: „Spiele Schwache gegen andere Schwache aus“ ist ein altes Rezept der Mächtigen, um von den wirklichen Missständen abzulenken, von denen sie profitieren.
Die Idee, Alzheimer-Patienten, Burnout-Opfer oder Süchtige aus Kostengründen ins Ausland auszulagern, ist beklemmend. Beklemmend sind aber auch manche Leserbriefreaktionen (Schweiz am Sonntag, 19. Mai 2013), die unsere Bereitschaft spiegeln, alle möglichen gesellschaftlichen Probleme mit der Ausländerproblematik in Verbindung zu bringen: Drei von fünf Lesern würden lieber bei den Flüchtlingen als bei den Alten sparen. Indem sie so zwischen „eigenen“ und „fremden“ Hilfsbedürftigen unterscheiden, verbleiben sie im Paradigma eines Denkens, das sie zu Recht verurteilen: Hilfsbedürftige werden hauptsächlich als Kostenfaktoren und als Problem wahrgenommen, der Mensch dahinter verschwindet. Das Bild von Flüchtlingen, Sozialhilfebezügern, Süchtigen und anderen Hilfsbedürftigen als Schmarotzer oder als Kriminelle wird seit einigen Jahren gezielt aufgebaut. Seien wir wachsam: „Spiele Schwache gegen andere Schwache aus“ ist ein altes Rezept der Mächtigen, um von den wirklichen Missständen abzulenken, von denen sie profitieren.
Dienstag, 14. Mai 2013
Die alltägliche Flucht vor dem Tod
„Demenz und Burnout: Kranke sollen zur Pflege nach Thailand“, titelte
die Schweiz am Sonntag vom 12. Mai 2013. Was verbirgt sich abgesehen von
Gewinnaussichten hinter dieser Idee?
Abschiebung der Gebrechlichen
Die arbeitsteilige Gesellschaft lässt die Pflege von Alten und Gebrechlichen
im Kreise ihrer Angehörigen nur in Ausnahmefällen zu. Pflegebedürftige erhalten
auch oft nur in Heimen die professionelle Hilfe, welcher sie bedürfen. Nun
droht erneut eine Abschiebung der Leistungsunfähigen, die jedoch kaum mehr mit ihrem
Wohl gerechtfertigt werden kann. Für eine Dislozierung von Pflegefällen ins
Ausland werden die hohen Pflegekosten hierzulande als Argument ins Feld geführt.
Unter dem Strich dürfte nur die Reiseindustrie profitieren, was unter
ökologischen Aspekten mehr als fragwürdig ist.
Externalisierung des eigenen existentiellen Schwachseins
Es lohnt sich, eine grundlegendere Problemebene zu beleuchten, welche
meist unbewusst oder zumindest unausgesprochen bleibt und sich hinter der Frage
verbirgt, wie mit Schwachen, Randständigen oder Kranken umzugehen sei und wer das
alles bezahlen soll. Die Idee, nahezu alle Lebensbereiche unter einem ökonomistischen
Blickwinkel zu betrachten und das Leben als etwas zu begreifen, das man „managen“,
bewältigen oder „abrunden“ kann, ist nicht einfach so vom Himmel auf
fruchtbaren Boden gefallen. Der Philosoph Karl Jaspers meinte mit Blick auf den
Nationalsozialismus, dass sich in der Verachtung von Schwachen ein Hassen des
eigenen, existentiellen Schwachseins äussert. Menschen „funktionieren“ heute
nicht wesentlich anders als damals. Im Fernhalten von Schwachen, Kranken,
Verfolgten, Hilfesuchenden und Alten von der Gesellschaft nach der Devise „aus
den Augen aus dem Sinn“ äussert sich zumindest auch jene Ablehnung des
eigenen, existentiellen Schwach- und Bedroht-Seins, die Jaspers vor Augen
stand.
Unverfügbarkeit des Daseins
Aus einer „ontologischen“, aufs Ganze des Seins zielenden Perspektive
erscheinen der Vergleichs-, Wettbewerbs-, Anerkennungs-, Machbarkeits-,
Leistungs-, Identitäts- und Jugendlichkeitswahn ebenfalls als Flucht vor einer
Ohnmacht, die im menschlichen Leben selbst liegt und sich in Stimmungen wie der
Angst oder Scham bemerkbar macht. "Leben ist, was Du daraus machst!":
Diese Parole bleibt eine Bewältigungsphantasie, sofern sie nicht im Bewusstsein
des finalen Scheiterns gründet. Einem solchen forcierten „Krampf des Freut euch
des Lebens“ (Adorno) entspricht auf der anderen Seite ein Zurück- und
Ausweichen vor einer mehr gefühlten als bewussten Unverfügbarkeit des Daseins –
ein Ausweichen, das in Phänomenen wie der Vergnügungssucht oder einem
paranoiden Sicherheitsstreben zum Ausdruck kommt, das in keinem Verhältnis mehr
zur objektiven Bedrohungslage steht.
„Revolte gegen die Ananke“
Ethologische, soziologische oder entwicklungspsychologische Theorien über
den Menschen dringen nicht zum gemeinsamen Kern solcher Phänomene vor. Phänomene
wie Vergnügungssucht oder übertriebenes Sicherheitsstreben verbindet gemäss einer
daseinsanalytischen oder existentialphilosophischen Herangehensweise an den
Menschen dessen wahnhaftes Streben nach Beherrschbarkeit des Lebens
beziehungsweise die verzweifelte Auflehnung insbesondere des modernen Menschen
gegen seine Sterblichkeit. Freud sprach von einer „Revolte gegen die Ananke“, einer
Rebellion gegen den Gott des Schicksals und der Notwendigkeit. Hier wird deutlich,
was gemeint ist, wenn behauptet wird, der Mensch sei unablässig auf
Transzendenz („Gott“) bezogen: Menschen affirmieren ihr Unterworfensein unter
das universale Schicksal noch in ihrer Auflehnung gegen dieses. Früher
bezeichnete man ein solches hybrides, grössenwahnsinniges Aufbegehren gegen
Gott als „Sünde“, die es so verstanden nur in der Einzahl gibt: „Sünde“ bezeichnete
eine auf das Ganze des Seins bezogene Haltung der Abwendung von diesem
Sein, da dieses wesentlich ein Schwach-Sein ist.
Religiöse Dimension
Religionen lehren jenseits kindlicher Gottesvorstellungen und jenseits aller
Verkehrungen in ihr Gegenteil seit jeher die Hinnahme der Unverfügbarkeit des
Daseins beziehungsweise die Hinnahme eines entsprechenden Bewusstseins, welches
einen ebenso erschreckenden wie faszinierenden Aspekt (mysterium fascinosum
et tremendum) aufweist. Man soll das Leben als das annehmen, was es ist,
das heisst: als ein vergängliches. Die Kreuzesmythologie spricht hier Bände und
hat gerade nichts mit der Lebensfeindlichkeit zu tun, die ihr
Vulgäratheisten unterstellen. Auch der Sufismus kennt das „sterbe bevor du
stirbst“ im Interesse des Lebens. Sterbenkönnen und Lebenlernen sind
laut Karl Jaspers dasselbe. Einem solchen Religionsverständnis zufolge konvergieren
Todes- und Transzendenzbezug in einem „Grenzbewusstsein“. Entgegen einer falsch
verstandenen Todesmystik (ob sie Heidegger zu Recht vorgeworfen wird, bleibe hier
dahingestellt) ist eine Bejahung des Todes wohl nur indirekt möglich: Indem man
sich Rechenschaft darüber abgibt (oder es zumindest versucht), wo überall und unter
Zuhilfenahme welcher Tricks man tagtäglich vor seinem existentiellen
Schwachsein und Scheitern flieht.
Die Zukunft bestimmt das Denken und Handeln
Denken und Handeln sind in viel höherem Masse von der Zukunft her, von
einem mehr oder weniger verdrängten Bewusstsein unserer Sterblichkeit her geprägt
als vom Festgelegten, Anfänglichen und Vergangenen her. Genetik, Triebwesen und
individuelle Entwicklungsgeschichte prägen unser Denken und Handeln keineswegs
ausschliesslich. Zuweilen „okkuppiert“ der menschliche Geist laut Erich Fromm gerade
umgekehrt das Triebwesen und bedient sich so des Festgelegten anstatt sich von
diesem bestimmen zu lassen. Gemeint ist, dass etwa im Mordrausch gerade nicht
„das Tier in uns“ die dünne Decke der Zivilisation durchbricht, wie Freud dachte,
sondern sich hybrides Streben umgekehrt der Triebstruktur bedient, um seine Grössenphantasien
auszuleben.
Metaphysische Dimension des politischen Handelns
Hier zeigen sich Parallelen zwischen einer verstehenden Psychologie und
der Religion. Sie böten einen Ansatzpunkt für einen im weiten Sinne
interreligiösen Dialog. Doch wer, wie dies hier versucht wird, Mythos und
Religion „existential“ interpretiert, gerät unweigerlich zwischen Stuhl und
Bank. Er schafft sich nicht nur Feinde unter jenen Religiösen, die in der
Religion suchen, was sie begehren, sondern auch unter „Aufgeklärten“,
die alles Religiöse weit von sich weisen. Doch das erkenntnistheoretische
Paradigma und instrumentelle Denken verleiht eine Macht über die Schöpfung und
das Leben, die ebenso wirkungsvoll wie der Glaube an einen rettenden Gott
vergessen lässt, dass sich das Leben im Ganzen und als solches unserem
Zugriff entzieht. Dieser Ganzheits- oder Transzendenzbezug ist auch und gerade
als ein verdeckter eine anthropologische Grundkonstante. Mit dessen Verkennung wird
auch die metaphysische Dimension des politischen Handelns unterschätzt, was
Fehldeutungen zur Folge hat. Wie wir uns zur Unverfügbarkeit des Daseins
stellen, zeigt sich aber indirekt, etwa im Patriotismus. Patriotismus ist eine
kollektive Selbstüberhöhung und laut dem Schriftsteller Peter Bichsel ein „Verbrechen“.
Fremdenfeindlichkeit
Eine metaphysische Dimension des Denkens und Handelns zeigt sich auch
im Umgang mit Fremden. Eine äussere Bedrohung weckt das „ontologische“, auf das
Ganze unseres Seins bezogene „Verstehen“ existentiellen Bedroht-Seins, welches wir
in sicheren Zeiten besser verdrängen können als in unsicheren. In äusserer
Bedrohung, etwa in Feinden, oder in Sinnbildern äusserer Bedrohung, den
Feindbildern, bekämpfen wir immer auch jenes verhasste Bedroht-Sein, das im
Leben selber liegt und durch eine äussere Bedrohungssituation, etwa eine
Wirtschaftskrise, evoziert wird. Deshalb nimmt Fremdenfeindlichkeit in Krisenzeiten
zu. Irrational erscheint Fremdenfeindlichkeit nur, weil wir mit einer Absicht,
die wir vor uns selbst verbergen, die Rolle übersehen, die der Tod im Leben spielt.
Fremdenfeindlichkeit dient massgeblich der „Verblendung“ (Adorno) unseres „Seins
zum Tode“. Fremdenfeindlichkeit ermöglicht die Bekämpfung des eigenen
Schicksals in anderen. Es gibt Ethologen, welche Fremdenfeindlichkeit beim
Menschen mit Rekurs auf das Abwehrverhalten von Blattschneiderameisen zu erklären
versuchen. So gesehen sind wir machtlos gegenüber unseren Instinkten. Oder
gegenüber Kindheitsprägungen. Oder gegenüber dem sozialen Umfeld. Ob wir uns in
unserem Urteilen und Vorverurteilen selbst verdächtig werden, hängt massgeblich
davon ab, ob wir eine philosophische Perspektive einnehmen und den Menschen nicht
nur unter dem Blickwinkel einzelner Fachdisziplinen betrachten.
Praxisbezug der Philosophie
Die Kultur hat den Tod nicht integriert (Adorno). Sartre sprach von „la
mauvaise foi“, von „Unaufrichtigkeit gegen sich selbst“. Selbstbetrug und Selbstflucht
können weitreichende Folgen haben: Identitätswahn und hybride Selbstüberhöhung,
oft als „Freiheit“ oder „Selbstbestimmung“ maskiert, gipfeln laut Hegel im Völkermord.
Es lohnt sich, öfters den „theoretischen“, etwas ausser Mode geratenen Blick
aufs Ganze zu wagen. Ob Friede möglich ist, hängt massgeblich vom Bild ab, das
wir uns vom Menschen machen. Ohne Analyse der Motive, die die Probleme
erzeugen, für welche wir Lösungen suchen, finden wir auch keine adäquaten
Lösungen. Bei dieser Suche nach dem, was uns Menschen ursprünglich bewegt,
hilft die Philosophie, deren Praxisbezug heute ebenso unterschätzt wird wie die
Bedeutung des Todes für unser Denken und Handeln. Philosophie gilt oft als
antiquiert. Doch sie ist nicht überholt. Man kann nur den Augenblick ihrer
Verwirklichung versäumen (Adorno). Es wäre Zeit für eine Kurskorrektur.
Christen sprechen von „Umkehr“, Philosophen eher von „Sprung“.
Matthias Bertschinger*
* Der Autor ist Jurist und University Professional Interdisziplinäre
Konfliktanalyse und Konfliktbewältigung
Dienstag, 7. Mai 2013
"Landesverrat"
Infosperber, 9. Mai 2013
Die gezielte Desavouierung staatlicher Institutionen unterhöhlt die Rechtskultur, auf welcher das demokratische Staatswesen beruht.
Die gezielte Desavouierung staatlicher Institutionen unterhöhlt die Rechtskultur, auf welcher das demokratische Staatswesen beruht.
Vor etwa zwei Jahren hat alt
Bundesrat und SVP-Vordenker Christoph Blocher alles das, was nicht ins
nationalkonservative Gedankengut passte, noch relativ harmlos (obschon
anmassend) als «unschweizerisch» bezeichnet: Wer in die EU wolle, der
sei nur noch auf dem Papier Schweizer, so beispielsweise in einem
Interview mit der Basler Zeitung vom 24. Januar 2011. Der Ton hat sich
seither verschärft: Anlässlich eines neueren Urteils des Bundesgerichts
spricht Blocher unumwunden von einem «stillen Staatsstreich» (NZZ vom 6.
März 2013), und Auns-Präsident Pirmin Schwander bezeichnet ein
Nachgeben beim Bankkundengeheimnis als «Landesverrat».
Wenn
jedoch Rechtspopulisten selber an den Fundamenten des demokratischen
Rechtsstaats rütteln – sei es, dass sie dessen Institutionen oder
universale Menschenrechte verunglimpfen – ,handelt es sich in deren
Augen nicht etwa um Landesverrat, sondern beschönigend um ein «Brechen
von Tabus» oder ein «Hinterfragen von Denkverboten».
«Geistige Brandstiftung» und «Volksverhetzung»
Laut
Publizistikprofessor Kurt Imhof diffamieren, diskreditieren und
diskriminieren Exponenten der SVP unter dem Deckmantel einer liberalen
Warte gezielt einzelne Bürger, ganze Gruppen und zentrale Institutionen
des Staates. Der einstige stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats
der Juden in Deutschland, Michel Friedmann, sprach in Zusammenhang mit der Weltwoche
sogar von «geistiger Brandstiftung» und «Volksverhetzung». Solchen
Tendenzen gelte es Einhalt zu gebieten, ehe es zu spät sei, warnte
Friedman. Und NZZ-Redaktor Martin Senti meinte letzten Samstag in der
«NZZ», der mechanisch repetierte Vorwurf, Bundesrat, Parlament und
Justiz seien «bloss eine Horde übler Landesverräter», habe nichts mehr
mit direkter Demokratie zu tun, sondern sei eine eingeübte Strategie
direkter Demagogie (NZZ vom 4. Mai 2013).
Zerstörung des Intellekts
«Landesverrat»
ist ein Superlativ. Dessen Fluch sei die Zerstörung des ihm
entgegenstehenden Intellekts. Dieser Satz stammt von Victor Klemperer,
Philologe und Überlebender des Holocaust, der in seinem Buch «LTI –
Lingua Tertii Imperii” Propaganda und Sprache des Dritten Reichs
untersuchte. Wenn in Leserbriefen räsoniert wird, man habe wohl in
Zukunft selbst für seine Sicherheit zu sorgen, gehört dies noch zu den
harmloseren Folgen rechtspopulistischer Propaganda. Doch hier zeigt
sich: Der Gedanke an Selbstjustiz wird salon- beziehungsweise
stammtischfähig. Denn schliesslich habe man es mit einer Regierung zu
tun, die sich gegen die Bürger und Bürgerinnen verschwöre, anstatt ihnen
und ihrer Sicherheit verpflichtet zu sein. Welche Folgen die
Desavouierung von staatlichen Institutionen im Extremfall haben kann,
zeigt der Fall Breivik. In ihn habe sich eingebrannt, was er im Internet
und in den Schriften konservativer Nationalisten gelesen hat, schrieb
die TagesWoche am 24. April 2013.
Man sollte das Wort ergreifen
Wie
schnell es gehen kann, bis Bürgerwehren das «Recht» selbst in die Hand
nehmen, und was tatsächlich einem Staatsstreich gleicht, zeigt ein Blick
nach Ungarn. Meinen Vorstellungen von Volkssouveränität und
Bürgerdemokratie entsprechen die Zustände in diesem Land nicht, und wohl
auch nicht einer Mehrheit hierzulande. Soll diese Mehrheit also länger
schweigen? Oder soll man gegen die geistigen Brandstifter das Wort
ergreifen? Oder schenkt man ihnen damit die Aufmerksamkeit und
Öffentlichkeit, die sie nicht verdienen?
Ich
meine, man sollte das Wort ergreifen. Denn es wird je länger desto
schwieriger, Einspruch zu erheben, wenn man die Deutungshoheit
unwidersprochen Demagogen überlässt.
Das hat
einerseits Gründe, die in der eigenen Person liegen – Gründe, die mit
der Kritikfähigkeit und mit dem herrschenden Diskurs zusammenhängen.
Klemperer schildert dessen Macht eindringlich: «Ich weiss, dass mir all
meine kritische Aufmerksamkeit im gegebenen Augenblick gar nicht hilft:
Irgendwann überwältigt mich die gedruckte Lüge, wenn sie
[unwidersprochen] von allen Seiten auf mich eindringt, wenn ihr rings um
mich her nur von wenigen, von immer wenigern und schliesslich von
keinem mehr Zweifel entgegengebracht werden». Sodann sorgen äussere
Gründe dafür, dass Widerspruch je länger desto schwieriger wird. Denn
kein Mensch mehr wird Einspruch erheben und sich damit in die Ecke des
Landesverräters stellen lassen, wenn mit diesen «Landesverrätern» eines
Tages nicht mehr zimperlich verfahren wird.
Einspruch gegen Verletzung von Anstandsregeln
Die
Meinungsäusserungsfreiheit ist ein hohes Rechtsgut und soll nur im
äussersten Falle eingeschränkt werden. Kritik am Staat muss erlaubt
sein. Man soll staatliche Institutionen sogar verächtlich machen dürfen, denn die Grenze zwischen Kritik und Herabsetzung ist fliessend. Aber man muss
auch Einspruch erheben, wenn Mitbürger oder Mitbürgerinnen in der
Meinung, alles was nicht verboten ist, sei erlaubt, es an Verantwortung
fehlen lassen. Recht und Moral bedingen einander. Das droht heute etwas
in Vergessenheit zu geraten. Die Moral hat in Zeiten, wo der Markt
vorgeblich alles zum Besten regelt - man müsse selbst nur genügend auf
den eigenen Vorteil bedacht sein -, einen schwierigen Stand.
Anstand
und Einspruch gegen die Verletzung von Anstandsregeln sind die Basis
des demokratischen Rechtsstaates. «Der freiheitliche, säkularisierte
Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann»,
lautet das berühmte Diktum des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang
Böckenförde. Artikel 6 unserer Bundesverfassung drückt das so aus: «Jede
Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren
Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei».
Diese Norm ist nicht justiziabel, wie Juristen sagen, also nicht
einklag- und durchsetzbar. Ob sich diese Regel Geltung verschafft, ist
eine Frage der Kultur, die Rechtspopulisten sträflich vermissen lassen.
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Keine. Matthias Bertschinger ist Jurist und Vorstandsmitglied mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen.
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