Freitag, 11. März 2011

Kann Westen demokratischen Geist in Arabien beurteilen?

(Leserbrief, Basellandschaftliche Zeitung vom 12. März 2011, BaZ vom 17. März 2011, NZZ vom 19. März 2011)


Zuweilen wird etwas vorlaut und vorschnell behauptet, den Aufständischen in der arabischen Welt gehe es nicht in erster Linie um Gerechtigkeit und Demokratie: „Die Regime in Tunis und Kairo wurden als illegitim erachtet, weil sie den Reichtum der Nation ausbeuteten – und das Volk darbte. Die Forderungen nach mehr Demokratie sind somit nicht die Triebfeder, sondern höchstens das Ventil der Bewegung“ (NZZ*), oder, mit Brecht auf den Punkt gebracht: „Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral“ (Helmut Hubacher in seiner vorletzten BaZ-Kolumne).
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass nicht nur der demokratische Wille zu den Aufständen geführt hat. Andererseits bieten gerade Mehrheitsentscheide die beste Gewähr, dass der Reichtum einer Nation gerecht verteilt und eine entsprechende Verteilung als rechtmässig akzeptiert wird. Man muss nicht im Westen das Licht der Welt erblickt haben, um diesen Gedanken verstehen zu können – im Gegenteil: Wer meint, Demokratie sei ein Gut, das ihm in die Wiege gelegt wurde, verkennt zu leicht, dass dieses Gut von jeder Generation aufs Neue gegen Ideologien und Missbrauch verteidigt werden muss. Ist der Westen angesichts des ausufernden Populismus und seines teils blinden Glaubens an die bessere Herrschaft von Wettbewerb und Konkurrenzkampf überhaupt noch so demokratienah, um den demokratischen Geist, der woanders möglicherweise frischer weht, beurteilen zu können? Es sei auch daran erinnert, dass sich der Protest an einem behördlichen Willkürakt gegen einen Gemüsehändler entzündet hat, und somit durchaus etwas mit Moral und Rechtsempfinden zu tun haben dürfte.

*NZZ (wohl vom 9.3.2011, zitiert nach der „Presseschau“ der Basellandschaftlichen Zeitung vom 10.3.2011, S.2)

2 Kommentare:

  1. BaZ-Variante:

    "Nur Wirtschaftsflüchtlinge"?

    Zuweilen wird vorlaut behauptet, den Aufständischen in der arabischen Welt gehe es nicht in erster Linie um Gerechtigkeit und Demokratie. Flüchtlinge aus Nordafrika werden daher von der SVP bis über die bürgerliche "Mitte" hinaus zynisch als "Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnet. (Dass die Schweiz über Jahre hinweg einen aktiven Beitrag zur Stabilisierung der Diktaturen in den jetzigen Krisenregionen geleistet hat, wird dabei verschwiegen).
    Natürlich hat auch Armut zu den Aufständen geführt. Doch gerade demokratische Mehrheitsentscheide bieten die beste Gewähr, dass der Reichtum einer Nation gerecht verteilt und eine entsprechende Verteilung als rechtmässig akzeptiert wird. Man muss nicht im Westen das Licht der Welt erblickt haben, um diesen Gedanken verstehen und sich für Demokratie einsetzen zu können – im Gegenteil: Wer meint, Demokratie sei ein Gut, das ihm in die Wiege gelegt wurde, verkennt zu leicht, dass Demokratie von jeder Generation aufs Neue gegen Missbrauch und Ideologien verteidigt werden muss. Ist der Westen angesichts des ausufernden Populismus und seines teils blinden Glaubens an die bessere Herrschaft von Wettbewerb und Konkurrenzkampf überhaupt noch so demokratienah, um den demokratischen Geist, der woanders vielleicht frischer weht, beurteilen zu können? Es sei auch daran erinnert, dass sich der Protest an einem behördlichen Willkürakt gegen einen Gemüsehändler entzündet hat, und somit durchaus nicht nur mit dem Fressen, sondern auch etwas mit Moral und Rechtsempfinden zu tun haben dürfte.

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  2. NZZ-Variante

    Demokratie in
    der arabischen Welt

    Zuweilen wird etwas vorlaut und vorschnell
    behauptet, den Aufständischen
    in der arabischen Welt gehe es nicht in
    erster Linie um Gerechtigkeit und Demokratie.
    Es ist nicht von der Hand zu
    weisen, dass nicht nur der demokratische
    Wille zu den Aufständen geführt hat.
    Andererseits bieten gerade Mehrheitsentscheide
    die beste Gewähr, dass der
    Reichtum einer Nation gerecht verteilt
    und eine entsprechende Verteilung als
    rechtmässig akzeptiert wird. Man muss
    nicht im Westen das Licht der Welt erblickt
    haben, um diesen Gedanken verstehen
    zu können – im Gegenteil: Wer
    meint, Demokratie sei ein Gut, das ihm
    in die Wiege gelegt wurde, verkennt zu
    leicht, dass dieses Gut von jeder Generation
    aufs neue gegen Ideologien und
    Missbrauch verteidigt werden muss. Ist
    der Westen angesichts des ausufernden
    Populismus und seines teilweise blinden
    Glaubens an die bessere Herrschaft von
    Wettbewerb und Konkurrenzkampf
    überhaupt noch so demokratienah, um
    den demokratischen Geist, der woanders
    möglicherweise frischer weht,
    beurteilen zu können?
    Matthias Bertschinger, Nunningen

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