Zwanzig
Jahre Schweiz ohne EWR – unter diesem Titel diskutierten am 6. November 2012
alt Staatssekretär Franz Blankart, alt Ständerat René Rhinow, Nationalrat und
Europarat-Abgeordneter Andreas Gross sowie der Historiker Georg Kreis unter der
Leitung von Philipp Loser von der „TagesWoche“, wie es mit der Beziehung
Schweiz-EU weitergehen soll. Eingeladen hatten die Demokratischen JuristInnen
(DJS) Sektion beider Basel, die Neue Europäische Bewegung Schweiz (NEBS) Sektion
beider Basel sowie das Europainstitut Basel, wo dieser gut besuchte und
spannende Gedenkanlass auch stattfand.
Rückblick
Nach dem
wohl emotionalsten Abstimmungskampf, den die Schweiz je erlebt hatte, sagten
Volk und Stände am 6. Dezember 1992 nein zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum).
Zum Volksmehr fehlten nur etwa 23‘000 Stimmen, zum doppelten Ja des Ständemehrs
hingegen rund 700‘000 Stimmen. Die Stimmbeteiligung betrug rekordverdächtige
78,7%. Der 6. Dezember 1992 läutete den Aufstieg der SVP zur wählerstärksten
Partei ein. Die Themenführerschaft in der Europapolitik hatten die
isolationistischen Rechten unter der Ägide der SVP nie mehr aus der Hand
gegeben, doch die EU-Skepsis wuchs seither auch unter den Linken (neoliberale
Wirtschafts- und Austeritätspolitik) und in der lateinischen Schweiz (Abbau des
Service public). Eine weitere Annäherung drängt sich für die Schweiz zurzeit demnach
nicht auf, doch nun macht die EU Druck: Sie fordert die Lösung der sogenannten
„institutionellen Frage“, also die Ablösung des schönfärberischen „autonomen“
durch den „automatischen Nachvollzug“ bei der Übernahme des EU- respektive
EWR-Rechts. In Streitfällen soll eine supranationale Gerichtsinstanz
(EFTA-Gerichtshof als verlängerter Arm des Europäischen Gerichtshofes) entscheiden,
wie das gemeinsame Recht auszulegen und anzuwenden sei – beim WTO- oder EMRK-Recht
ist diese Praxis übrigens längst gang und gäbe. Dass sich ein Land selbst
überwacht, kommt für die EU – insbesondere mit Blick auf ihre Mitglieder, die
sich der EU-Rechtsprechung zu unterziehen haben – nicht länger in Frage. Wer
den Marktzutritt will, der hat sich auch den gemeinsamen Marktregeln zu beugen,
so der Standpunkt der EU, die um die Homogenität ihrer Rechtsordnung besorgt
sein muss. Der „bilaterale Weg“, von der Schweiz oft euphemistisch als
„Königsweg“ bezeichnet, doch von der EU mehr als Übergangslösung gedacht, erweist
sich als Sackgasse. Auf der anderen Seite ist ein EU-Beitritt derzeit nicht
mehrheitsfähig. Gibt es einen Weg aus dieser verfahrenen Situation?
Ausblick
Blankart
sieht in einem EWR-Beitritt die einzige valable Lösung. Der Beitritt brächte –
mit Ausnahme des Agrarsektors – eine umfassende Integration in den Binnenmarkt.
Ausgeweitet würde auch das Mitspracherecht bei der Entscheidvorbereitung. Doch dieses „Recht“ vermag
den Demokratieverlust nicht aufzuwiegen, der bei einer automatischen Übernahme
des EU-Acquis entstünde, so Gross und Rhinow übereinstimmend. Beide sprechen
sich damit gegen eine wirtschaftliche Partizipation ohne politische Integration
aus. Schon der „autonome Nachvollzug“ sei einer Demokratie unwürdig. Die
Schweiz hat in einem ähnlichen Umfang EU-Recht übernommen wie das EU-Mitglied
Österreich, ohne aber an den Entscheidungsprozessen beteiligt gewesen zu sein. Unser
Land ist längst „Passivmitglied“ der EU, ein EU-Mitglied ohne Stimmrecht
(offenbar gibt dieser Demokratie- und Souveränitätsverlust den rechten Isolationisten
nichts zu denken). Kein Staat der Welt sei heute mehr souverän, sagt Rhinow,
und: „Wo ich nicht mehr autonom entscheiden kann, muss ich alles daran setzen,
mitzubestimmen!“ Beim EWR ist dies gerade nicht möglich: Der EWR sei eine
„Nicht-Vision“, es fehle die staatspolitische Dimension.
Demokratie
lässt sich heute nur transnational bewahren, meint Andreas Gross. Doch wie
lässt sich der „Verdrängungsprozess“ (Rhinow) aufbrechen, in welchem sich das
Land befindet? Eine rationale Debatte über Europa- und Aussenpolitik sei heute kaum
mehr möglich, wundert sich René Rhinow, der der Schweiz einen besorgniserregenden
Realitätsverlust attestiert. Wie bringt man die „unangemessenen
Einzigartigkeitsvorstellungen“ (Kreis) wieder aus den Köpfen? Dass wir
vorgeblich alles besser können, sei auch durch drei Kriege untermauert worden, meint
Andreas Gross. Der Souveränitätsbegriff sei zu einem Kampfbegriff verkommen,
beklagen die Podiumsteilnehmer unisono, zum Marketinginstrument einer
populistischen Bewegung. Der Verhinderungswille konnte auf ein altes
ideologisches Reservoir zurückgreifen, an welchem auch progressive Kräfte
mitbauten, so Georg Kreis.
Krise der Demokratie
Die
Elite habe den Leuten 40 Jahre lang das Falsche gesagt, und eine Mentalität
könne man nicht von heute auf morgen ändern, meint Andreas Gross, der an ein
Diktum des Aussenpolitikers Ernst Mühlemann erinnert: Politik sei zu 50%
Pädagogik. Man müsse wieder damit beginnen, Politik den Leuten zu erklären.
Fortschritt sei ein kollektiver Lernprozess, an dem man arbeiten müsse. Zur
Sprache kam damit an diesem Abend weitaus mehr als die Frage der Beziehung
Schweiz-EU. Zur Sprache kam ein Dilemma, in welchem alle westlichen (Stimmungs-)Demokratien
stecken, und welches gerade die weitere Integration der EU selbst betrifft: Wie
vermittelt man den Menschen, dass Solidarität im wohlverstandenen Eigeninteresse
ist, und dass man in gute Lösungen auch etwas investieren muss? Wie kann man
von Politikern erwarten, dass sie Aufklärungsarbeit leisten, dass sie klaren
Wein einschenken, wenn sie das Wählerstimmen kostet?
Matthias
Bertschinger
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