TagesWoche, 30. Mai 2014
Nach dem Gripen-Entscheid von vorletztem Wochenende stellt sich die Frage nach der Sicherheitsstrategie der Schweiz: Gemeinsame Sicherheitspolitik und proaktives Handeln oder Rückzug ins Chalet-Denken? Am kommenden Sonntag wird alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in Basel ihr Buch „Die Schweiz, die ich uns wünsche“ vorstellen. Eine Diskussion über die Handlungsmaximen einer aktiven Aussen-, Neutralitäts- und Sicherheitspolitik, welche Micheline Calmy-Rey in ihrem Buch skizziert, ist aber vor allem nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative nötiger denn je.
Nach dem Gripen-Entscheid von vorletztem Wochenende stellt sich die Frage nach der Sicherheitsstrategie der Schweiz: Gemeinsame Sicherheitspolitik und proaktives Handeln oder Rückzug ins Chalet-Denken? Am kommenden Sonntag wird alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in Basel ihr Buch „Die Schweiz, die ich uns wünsche“ vorstellen. Eine Diskussion über die Handlungsmaximen einer aktiven Aussen-, Neutralitäts- und Sicherheitspolitik, welche Micheline Calmy-Rey in ihrem Buch skizziert, ist aber vor allem nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative nötiger denn je.
„Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, braucht die Schweiz
eine gerechte Weltordnung. Es gilt darum nicht nur, unser bilaterales
Verhältnis mit anderen zu pflegen, sondern vor allem auch Einfluss in den
multilateralen Gremien zu gewinnen, wo eine solche Ordnung entsteht.“ Einfluss
gewinnt man, indem man mitmacht und sich beteiligt.
Micheline Calmy-Rey fordert eine aktive Neutralitätspolitik,
denn „ohne die aktive Beteiligung von Ländern wie der Schweiz wäre die
Hegemonie der grossen Länder noch ausgeprägter.“ Eine aktive Aussen-, Neutralitäts- und Sicherheitspolitik ist somit
eine Frage der Souveränität, die vom Grad der Beteiligung, vom Grad der
Mitsprache in einer globalisierten Welt abhängt. Denen die meinen, die beste
Aussenpolitik wäre gar keine, hält Calmy-Rey den Spiegel vor:
„Die schweizerische Neutralität ist kein Hindernis für die
internationale Zusammenarbeit. Sie ist kein Hindernis für die Beteiligung der
Schweiz an einem kollektiven Sicherheitssystem. Sie ist kein Hindernis für eine
aktive Politik der Friedensförderung. Und wenn man die Position der Schweiz
unvoreingenommen betrachtet, muss man leider feststellen, dass sie de facto
auch kein Hindernis ist für die Lieferung von Militärmaterial in
Konfliktgebiete oder in Länder, die die Bestimmungen des Völkerrechts systematisch
verletzen […].“
„Ich bin überzeugt, dass es unabdingbar ist, nationale
ökonomische Notwendigkeiten und globale Ziele miteinander in Übereinstimmung zu
bringen: Man kann nicht auf Diplomatie setzen und Waffen an Kriegsparteien
verkaufen, man kann sich nicht als Anwalt der Menschlichkeit verstehen, sich
rechtsstaatlicher Prinzipien rühmen und die ganze Welt belehren und
gleichzeitig als Drehscheibe zur Umgehung der Normen und Regeln der anderen
dienen.“
Das Völkerrecht bildet den Rahmen, der kleinen Ländern die Mitsprache
sichert und ihre Souveränität garantiert. „Die Schweiz muss [daher] auf die
Autorität des Völkerrechts pochen, um ihre Interessen und Unabhängigkeit zu
schützen“. „Die Schweiz hat immer auf den Vorrang des Rechts gesetzt. Wenn sie
ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sie in aller Freiheit eingegangen
ist, nicht mehr wahrnehmen will, verliert sie ihr Ansehen und schwächt die
Werte, die sie bis anhin verteidigte.“
Sicherheitspolitik und ein Einstehen für Menschenrechte,
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien heute untrennbar miteinander verbunden:
„[…] wir sprechen hier von einer von humanistischen Prinzipien durchdrungenen
Politik und einer eigentlichen Ethik politischen Handelns. In einer solchen
Optik geht die Aussen- und Sicherheitspolitik über die Verteidigung und
Förderung der nationalen Interessen hinaus.“
„Die Sicherheit ist ein kollektives Gut, für die die ganze
internationale Gemeinschaft verantwortlich ist. Es ist schon lange so, dass
kein Staat sich mehr aus der Welt zurückziehen und sich in einer Splendid
Isolation einrichten kann.“
„Können“ ist dabei relativ zu verstehen, denn wir können uns
neuen Realitäten natürlich immer auch verschliessen: „Natürlich dürfen wir uns
frei entscheiden, uns hinter unsere Berge zurückzuziehen und uns aufzuführen,
wie wir wollen: Minarette verbieten und den automatischen Informationsaustausch
ablehnen, doch sollten wir uns der internationalen Konsequenzen solcher
Entscheidungen bewusst sein“, schliesst sie ihr Buch.
Micheline Calmy-Rey spricht sich dafür aus, über eine
EU-Mitgliedschaft nachzudenken, um unsere Souveränität zu sichern und zu mehren.
Diese beiden Ziele scheinen auf den ersten Blick unvereinbar, weil Rechtspopulisten
seit Jahren repetieren, Souveränität und EU-Mitgliedschaft verhielten sich
zueinander wie Feuer und Wasser. Die alt Bundespräsidentin und Aussenministerin stellt klar, dass sich das Mass der Souveränität an der Mitsprachemöglichkeit eines Landes auf supranationaler
Ebene bemisst, am Grad der Einbindung in eine zunehmend interdependente Welt, nicht am Grad der Loslösung und Isolation (beschönigend: "Unabhängigkeit").