Die Kurzschlüsse im libertären Denken
oder
Die Libertären und der Tod
Mit den
„Anarchokapitalisten“, „Anarcholiberalen“ oder „Libertären“ wird eine ultra-rechte
Ideologie in der Schweiz langsam salonfähig. Libertäre bewegen sich, trotz
aller Widersprüche, die sich daraus ergeben, im Fahrwasser der rechtsnationalen
Blocher-Bewegung. Sie diskreditieren den Sozialstaat als asozial, stellen
Mächtige als Opfer des „Zwangsstaates“ hin, wenden sich gegen das Machtmonopol
des demokratischen Rechtsstaates und würden diesen am liebsten abschaffen. Dabei
beklagen sie auch Missstände, die unter demokratischen Gesichtspunkten
tatsächlich welche sind: Etwa, dass Ausländer in der Schweiz nicht über das
Recht mitbestimmen dürfen, welchem sie unterworfen sind. Bekannte Apologeten des
Libertarismus, der wie alle Heilslehren das Glück in der Abschaffung eines
„Übels“ sieht, sind der Journalist Alex Baur (Weltwoche), der Kolumnist und
Rechtsprofessor David Dürr (BaZ) oder der Küssnachter Pfarrer Peter Ruch
(Liberales Institut). Mit welchen Tricks operieren diese Herren? Und was treibt
sie an?
Erster Kurzschluss
Libertäre
diskreditieren den demokratischen Rechtsstaat als illegitimes Machtgebilde,
indem sie den Massstab des Privatrechts ans Staatsrecht ansetzten und so tun,
als wäre dieser Kniff selbstredend und keiner weiteren Hinterfragung würdig. Doch
ein verpflichtendes Ja im Vertragsrecht ist etwas völlig anderes als ein Volks-Ja
bei einer Abstimmung (direkte Demokratie), das grundsätzlich alle
Rechtsunterworfenen zu respektieren haben, und die Vertretung im Vertragsrecht muss
völlig anderen Anforderungen genügen als die Volksvertretung (indirekte
Demokratie). Gestandene Staatsrechtler wie der Baselbieter alt Ständerat René
Rhinow fragen sich angesichts eines solchen Kurzschlusses, ob man Libertäre
überhaupt ernst nehmen soll und kann. Was sich als brillantes Denken gibt,
entlarvt sich bei näherem Hinsehen als billiger Trick und Rattenfängerei. Man sollte
Libertäre insofern ernst nehmen, als sie – leider –von vielen Leichtgläubigen ernst
genommen werden. Libertäre sind noch lange kein Fall für den Staatsschutz, ihre
Argumente bedürfen aber einer Widerlegung in der öffentlichen Debatte.
Zweiter Kurzschluss
Laut Alex Baur macht
der Sozialstaat Menschen asozial. Libertäre fordern angesichts des
Sozialhilfemissbrauchs die Abschaffung des Sozialstaates und „vergessen“ dabei,
dass man alle Bereiche der Geltung pervertieren kann – vom Staat über
supranationale Organisationen bis hin zur Religion. Der Basler Philosoph Stefan
Brotbeck sprach in diesem Zusammenhang einmal vom „Missbrauch des Missbrauchs
zur Diskreditierung des Gebrauchs“. Auch die Pressefreiheit kann man
missbrauchen, und von sexuellem Missbrauch lesen wir täglich. Aber nur Diktatoren
oder religiöse Fanatiker fordern angesichts dieser Missbrauchsmöglichkeit
(beziehungsweise angesichts dessen, was sie unter Missbrauch verstehen) die
Abschaffung von Pressefreiheit oder Sexualität. Der Missbrauch macht das Missbrauchte
oder die Idee dahinter noch lange nicht schlecht. Man muss Missbrauch bekämpfen
und nicht das Missbrauchte abschaffen. Wie überall kommt es darauf an, was man
aus etwas macht.
Dritter Kurzschluss
Libertäre vertrauen
auf das Gute im Menschen. Gelebte Solidarität falle einfach vom Himmel, wenn
sie nicht mehr sozialstaatlich organisiert sei, glauben sie und berufen sich
dabei explizit oder implizit auf den Philosophen Peter Sloterdijk. Gemäss
Sloterdijk wird der freiwillige Edelmut der Reichen durch den „Zwangsstaat“ erstickt.
David Dürr bemüht in seinem Buch „Staats-Oper Schweiz“ als Beweis eines
naturwüchsig Guten im Menschen das Beispiel eines ertrinkenden Kindes und führt
an, in einer solchen Situation könne man gar nicht anders als ins Wasser
springen und es zu retten, ansonsten einen das Bild dieses ertrinkenden Kindes ein
Leben lang verfolge. Etwas anderes ist es, einen chronisch Kranken, der keine
Verwandten hat, ein Leben lang zu pflegen. Ein solcher Hilfsbedürftiger müsste
im libertären Paradies wohl bettelnd zugrunde gehen.
Was treibt Libertäre an?
Libertäre sehen sich
als Opfer des mächtigen „Zwangsstaates“, der die Reichen bestiehlt. Entgegen
ihrem (vorgeschobenen) Selbstverständnis als Ausgebeutete und Geknechtete stellen
sich Libertäre auf die Seite der wirklich Mächtigen: Von einem „Sozialschmarotzertum“
der obersten Zehntausend, die ohne Leistung erbringen zu müssen feudal von
Kapitalerträgen leben können, ist bei Libertären nämlich nicht die Rede. „Trittbrettfahrer“
der „zahlenden Fahrgäste“ (Dürr) gibt es in ihren Augen nur bei den
Unterprivilegierten. Die Vermutung liegt daher nahe, dass hinter dem
Libertarismus nicht viel mehr steckt als eine weitere Spielart, sich zusammen
mit anderen von Schwachen zu distanzieren, sie auszugrenzen und Schwache gegen noch
Schwächere auszuspielen. Doch was verbirgt sich hinter der Aversion gegen
Schwache?
Soziologischer Ansatz
Auf ethologische
Erklärungsansätze, die vom Verhalten von Blattschneiderameisen auf das
Sozialverhalten des Menschen schliessen (vgl. Tagi-Magi Nr. …) und damit von
dessen Geist absehen, gehe ich nicht näher ein, auch wenn sich solche Theorien ungebrochener
Beliebtheit erfreuen. Laut dem Psychoanalytiker Erich Fromm wird beim Menschen der Trieb vom Geist okkupiert
und instrumentalisiert. Vergleiche mit dem Tierreich sind daher heikel. Soziologen
vermuten, dass sich Menschen einen handfesten Vorteil davon versprechen (respektive
dass sie diesbezügliche Verlustängste plagen), wenn sie sich auf die Seite der
Mächtigen schlagen beziehungsweise den „herrschenden Verhältnissen“
unterordnen. Laut Marx machen Unterprivilegierte aufgrund der Versprechen, die
die herrschende Ordnung für sie bereithält, die Interessen der Mächtigen zu
ihren eigenen. Die herrschenden Verhältnisse – das „Sein“ – bestimmen unser
Bewusstsein.
Existentiale Analyse
Von einer solchen
„Einbahnstrasse“ von oben nach unten kann aus einer existentialphilosophischen Sicht,
welcher kein funktionalistisches, sondern ein im weiten Sinne humanistisches
Menschenbild zugrunde liegt, nicht die Rede sein. Laut den Philosophen
Heidegger und Adorno fügen wir uns den herrschenden Verhältnissen
beziehungsweise schicken uns ins „Man“ (Heidegger) oder den „gesellschaftlichen
Verblendungszusammenhang“ (Adorno), um von unserer eigenen Sterblichkeit abzulenken.
Freud spricht von einer Revolte gegen die „Ananke“, einer Auflehnung gegen die (griechische
Göttin der) Zwangsläufigkeit. Mythos und Religion sprechen von einer Abwendung
von Gott, etwa im Götzendienst, auf welchen Marx die Religion reduziert („Opium
fürs Volk“). Herrschende Strukturen und Verständniskontexte bieten Sicherheit
und Halt weit über ein oberflächliches Verständnis von Vorteil und Interesse hinaus:
Sie schützen uns wie eine Droge oder ein Wahn vor unserem eigenen, denkenden Wahrnehmen,
welches uns unser existentielles Schwach- und Ausgesetztsein offenbart. Laut
der Zürcher Daseinsanalytikerin Alice Holzhey-Kunz fliehen Menschen unablässig vor
Selbsterkenntnis. Menschen instrumentalisieren gemäss einem solchen
kulturkritischen Ansatz die herrschenden Verhältnisse genauso für ihre
versteckten Absichten wie sie umgekehrt von ihnen beherrscht werden. Wir sind
zugleich Gefangene und Wärter des Gefängnisses, in dem wir sitzen. In dieselbe
Richtung weist der Philosoph Karl Jaspers, wenn er sagt, Menschen hassen und
bekämpfen in Schwachen ihr eigenes Schwachsein. Nach demselben Prinzip
funktioniert Fremdenfeindlichkeit: In Fremden und Fremdgesetztem bekämpfen
Menschen ihr existentielles Bedrohtsein.
„Die Philosophie
aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen.“ (Hegel)
Die Kultur hat den
Tod nicht integriert – noch immer nicht. Philosophie und Mythologie legen den
Finger seit jeher auf diesen wunden Punkt. Sie sind keineswegs das
schöngeistige, aber letztlich nutzlose und praxisferne Beigemüse neben den
evidenzbasierten Wissenschaften, wie naive Bildungspolitiker glauben. Den zunehmend
spezialisierten wissenschaftlichen Einzeldisziplinen wäre zu wünschen, den Blick
„aufs Ganze“ und die Zusammenhänge nicht zu verlieren. Denn dieser verrät: Das
Buckeln gegen oben und Treten gegen unten sind eine Flucht vor Freiheit, in die
die westliche Kultur das Individuum entlässt. Anstatt den Wettbewerb auf einer
Metaebene zu hinterfragen und dem Prestige- und Machtstreben, welches das
Individuum isoliert, eine Kultur des Miteinanders entgegen zu setzen, bezeichnen wir das Machtstreben oft als
Streben nach Freiheit anstatt als Flucht vor ihr. Es lässt sich eben alles, insbesondere auch die Sprache,
missbrauchen. Und es ist diese Distanznahme
von den Mitmenschen und sich selbst, die Libertäre meinen, wenn sie von Freiheit
sprechen. Deshalb muss man Machtstreben noch lange nicht abschaffen. Um das Ego
zu überwinden, muss man erst einmal eines haben.
Transnationalisierung von Recht und Demokratie
Es zeugt nicht von
viel Weitsicht, einen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch, der staatlicher
Strukturen bedarf, als „Sozialismus“ schlechtzureden. Der sogenannte „Zwangs-“
und „Umverteilungsstaat“ sichert den sozialen Frieden und liegt damit auch im
Interesse der Mächtigen und ihrer Kinder. Demokratische Rechtstaatlichkeit
bedarf als Korrektiv des „Rechts des Stärkeren“ angesichts einer längst globalisierten
Wirtschaft im Gegenteil ebenfalls einer „Transnationalisierung“. Sie hat
den legitimen Anspruch, notfalls mit Zwang Rahmenbedingungen zu setzen und Ausgleich zu schaffen,
insoweit sie möglichst alle Rechtsunterworfenen in den Mitgestaltungsprozess einbezieht,
gewaltenteilig aufgebaut ist, dem Subsidiaritätsprinzip gehorcht und die fundamentalen
Freiheitsrechte von Minderheiten aber auch von kommenden Generationen und
Menschen in anderen Erdteilen respektiert – also selbst Grenzen kennt und Missbrauchsmöglichkeiten
minimiert.
Man kann die philosophischen
Theorien über unsere Aversion gegen Schwache als unbeweisbar von sich weisen
oder als psychologisierend abtun. Unabhängig davon gilt: Ernstzunehmende
Sozialutopien bauen nicht auf Kurzschlüssen auf.
Matthias
Bertschinger, Nunningen, Jurist und UP in Konfliktanalyse.
(Dieser Essay resumiert seine Diplomarbeit „Fremdenfeindlichkeit
und Tod. Existentiale Konfliktanalyse“.)