Dienstag, 22. Mai 2012

"Was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?"

Onlineplattform Infosperber vom 24. Mai 2012, Basellandchaftliche Zeitung vom 16. Juni 2012.

„Die direkte Demokratie“ verkommt allmählich zu einer Ausrede für Weltflucht. Wir sind gegen mehr gemeinsames (Völker-)Recht, gegen gemeinsame (und eben nicht „fremde“) Richter und gegen so genannte „undemokratische“ Gebilde wie die EU; wir wollen „im Gegenteil“ mehr direkte Demokratie, denn: Hätten wir mehr direkte Demokratie, wäre automatisch Vieles besser. „Die direkte Demokratie“ steht nicht mehr nur für ein Verfahren mit seinen Vor- aber auch Nachteilen, sondern verkommt zu einer Ideologie. Das zeigt sich auch und gerade in den Diskussionen rund um die Initiative "Staatsverträge vors Volk!": Die Frage "was hast Du gegen mehr direkte Demokratie?" entwaffnet, weil sie sich auf einen Glauben stützt – auf ein Denkverbot.
Der Überhöhung der direkten Demokratie liegt nicht ein Wille zu mehr Freiheit zugrunde, sondern im Gegenteil eine Angst vor Freiheit, Weltoffenheit, moderner Staatlichkeit überhaupt und „global governance“ sowieso. Die direkte Demokratie dient uns als Ausrede für unsere Weltflucht: Nur wo Alle über Alles in kleinen Gemeinschaften befinden können, sei der Mensch sich nicht selbst entfremdet, geben wir uns überzeugt. Europäische und weltweite Integration setzen wir kurzerhand mit weniger Demokratie gleich. Oder wir rationalisieren unseren Rückzug in die Isolation, indem wir die weltweiten Probleme erst gar nicht als unsere eigenen betrachten. So müssen wir uns auch nicht in Problemlösungsstrukturen einbinden lassen, die eine Lösung der weltweiten Probleme bezwecken. In der Überhöhung der direkten Demokratie zeigt sich eine Verweigerung der Einsicht, Teil eines Ganzen zu sein, und für dessen Schicksal, das auch unser eigenes ist, mitverantwortlich zu sein.
Doch wir sind Teil dieser Welt, ob wir das sehen wollen oder nicht. Unsere hoch technisierte und globalisierte Welt bedarf dringender denn je einer Stärkung internationaler Politikebenen, um weltweit akzeptierte Standards des Minderheitenschutzes durchzusetzen, globalisierte Finanzmärkte wieder in den Dienst der Menschen zu stellen, globale Güter (Wasser, Luft, Biosphäre) zu schützen oder die nukleare Non-Proliferation zu intensivieren. Nur gemeinsam lassen sich Sachzwänge wie der Standortwettbewerb überwinden, der auf die Zerstörung sämtlicher Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards hinausläuft. Nur durch ein gemeinsames Vorgehen erhalten die Völker dieser Erde ihre Handlungsfähigkeit – ihre Souveränität! – zurück. Überstaatliche „Weltinnenpolitik“ bedeutet also keineswegs weniger Demokratie und Souveränität. Denn was nützt die Souveränität auf dem Papier, wo der einzelne Staat nicht mehr handlungsfähig ist, weil er von der globalisierten Wirtschaft gegen andere Staaten ausgespielt wird?
Den Initianten der Initiative „Staatsverträge vors Volk!“ geht es nicht um die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen und Völker – im Gegenteil. Hinter dieser Initiative stehen Kreise, die an einer handlungsfähigen und demokratischen internationalen Gemeinschaft, die den Menschen und Völkern ihre Souveränität wieder zurückgeben könnte, nicht das geringste Interesse haben. Wir wären gut beraten, davor nicht länger die Augen zu verschliessen und uns freiwillig unterdrückenden Strukturen zu beugen, weil sie trügerischen Halt bieten.

Standortwettbewerb

Nicht mehr wir Bürgerinnen und Bürger bestimmen, wie viel Geld der Staat zur Bewältigung seiner Aufgaben einnehmen soll, sondern der Standortwettbewerb. Damit bestimmt der Standortwettbewerb auch, welche Aufgaben der Staat überhaupt noch wahrnehmen soll. Standortwettbewerb ist ein Sachzwang, dem gehuldigt wird, weil man mit Verweis auf ihn Partikularinteressen auf eine erpresserische Weise durchsetzen kann, ohne als Erpresser dazustehen: „Wenn Ihr die Unternehmenssteuern nicht senkt, wandern wir ab“. Bürgerliche und Firmenchefs sprechen diese Drohung offen aus und stellen damit ihr Demokratieverständnis unter Beweis. Zuletzt Christophe Haller, FDP Basel, in seinem Leserbrief hier in der Basellandschaftlichen Zeitung: Wir sollten „alles (sic!) tun, um die vielen Arbeitsplätze“ zu erhalten. Also tun wir zum wiederholten Male alles, was uns befohlen wird. Wir senken die Unternehmenssteuern, um die vielen Arbeitsplätze zu erhalten. Dadurch wird die Standortattraktivität anderswo schlechter, und es werden dort die Unternehmenssteuern gesenkt. Danach sind wir wieder dran. Und so weiter. Das bürgerliche Geschäft mit der Angst wird noch solange funktionieren, bis wir merken, dass dem Krebsübel Standortwettbewerb nur überregional und transnational beizukommen ist, und dass es gälte, die entsprechenden Politikebenen zu stärken statt zu verteufeln. Doch bevor wir Schweizer in Gebilden wie der EU ein Mittel der Befreiung statt Unterdrückung erblicken, werden wir uns wohl noch hundert Mal erpressen lassen.